Freidenker Andreas Kyriacou stellt sich im Gastbeitrag die Frage, ob uns der christliche Dogmatismus um Jahrhunderte zurückwarf.
ehe für alle Kyriacou
Andreas Kyriacou, Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS). - Evelin Frerk
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Das Wichtigste in Kürze

  • Unser Rechts- und Bildungssystem sei stark von Römer und Griechen geprägt, so Kyriacou.
  • Laut Freidenker Kyriacou habe auch das Christentum die Welt kulturell geprägt.
  • Er fragt sich jedoch, ob christliche Einflüsse uns nicht in der Entwicklung zurückwarfen.

Unsere Kultur verdanken wir dem Christentum, ohne diesen religiösen Bodensatz würde Europa viel fehlen – wer hat diese Aussage nicht schon gehört?

Und in mancherlei Hinsicht stimmt sie ja auch. Insbesondere Malerei, Musik und Architektur wurden stark durch kirchliche Auftragsarbeit geprägt.

Doch wir wissen, dass das «christliche» Abendland längst nicht nur christliche Wurzeln hat: Unser Rechtssystem ist stark von dem der Römer geprägt, und für unser Bildungssystem lieferte das antike Griechenland die Vorlage.

Römische Statue.
Andreas Kyriacou: «Unser Rechtssystem ist stark von dem der Römer geprägt, und für unser Bildungssystem lieferte das antike Griechenland die Vorlage.» - unsplash

Griechische Philosophen, Astronomen und Mathematiker erarbeiteten bereits vor deutlich mehr als 2000 Jahren Thesen und Konzepte, die sich teilweise erst viele Jahrhunderte später durchsetzen sollten.

Modernes Weltbild antiker Gelehrter

So vertrat beispielsweise Aristarchos von Samos bereits gut 250 Jahre vor unserer Zeitrechnung die Ansicht, dass die Erde und die anderen Planeten die Sonne umkreisten.

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Etablieren konnte sich das heliozentrische Weltbild jedoch erst im 16. Jahrhundert, nachdem der Astronom und Kartograf Nikolaus Kopernikus sein Hauptwerk veröffentlicht hatte.

Doch selbst dann stiessen die Thesen auf Widerstand, obschon seine Berechnungen genauer waren als die von Aristarchos.

Griechenland, Athen.
«Das Weltbild antiker Gelehrter war in vielerlei Hinsicht moderner als dasjenige von Bildungsbürgern, die Jahrhunderte später im christlich geprägten Europa lebten», so Kyriacou. - unsplash

Sein Werk wurde insbesondere von Kirchenfunktionären kritisiert – obwohl Kopernikus selbst auch als Domherr tätig war und sein Werk Papst Paul III. gewidmet hatte.

Philipp Melanchthon, Rektor der Universität Wittenberg und wichtiger Mitstreiter Luthers, etwa nannte das Werk eine «Zügellosigkeit der Geister» und rief anfänglich nach Zensur.

Das Beispiel zeigt: Das Weltbild antiker Gelehrter war in vielerlei Hinsicht moderner als dasjenige von Bildungsbürgern, die Jahrhunderte später im christlich geprägten Europa lebten.

Der Mechanismus von Antikythera – ein 2100 Jahre alter Computer

Neue Forschung über einen 2100 Jahre alten «Computer» legt nun nahe, dass das antike Verständnis über die Welt und das All, aber auch das Wissen über Mathematik und Mechanik noch umfassender war, als bisher bekannt.

Der sogenannte Mechanismus von Antikythera besteht aus etwa 30 verbundenen Zahnrädern.

Taucher bargen das mechanische Rechengerät im Jahr 1900 aus einem antiken Schiffswrack, das im Mittelmeer gesunken war. Dank weiteren Fundstücken weiss man, dass das komplexe Räderwerk aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammt.

Antikythera Mechanismus.
Fragment des Mechanismus von Antikythera, Archäologisches Nationalmuseum Athen. - keystone

Nur etwa ein Drittel des Geräts ist noch vorhanden, aber dank teilweise erhaltener Beschriftungen war schnell klar, dass es zum Berechnen der Positionen von Himmelskörpern diente.

Der Mechanismus weckte immer wieder die Neugierde von Forschergruppen, die seine Funktion gänzlich verstehen wollten.

Das Team um Adam Wojcik vom University College London gewann nun unter anderem mithilfe eines neuen 3D-Modells zusätzliche Erkenntnisse. Ihrer Einschätzung nach war das Gerät noch weitaus raffinierter, als man bisher vermuten konnte.

Mit dem Mechanismus von Antikythera lassen sich elliptische Planetenbahnen, Mondphasen, Jahreszeiten, Sternkonstellationen und anderes mehr vorausberechnen.

Es ist, so die Forscher, die erste bekannte Apparatur, mit dem wissenschaftliche Voraussagen mechanisch gerechnet und überprüft werden konnten.

Ein christlicher Mob zerstörte in Alexandria antikes Wissen

Die griechischen Stadtstaaten wurden im zweiten und ersten Jahrhundert v. u. Z. nach und nach ins aufstrebende Römische Reich integriert. Das hellenische Wissen ging aber nicht einfach unter. Römische Gelehrte nahmen es auf, und auch die Bibliothek von Alexandria wurde unter römischer Herrschaft weiter betrieben.

Kirche Athen.
Andreas Kyriacou: «Zum Glück blieb insgesamt ein respektabler Teil des antiken Wissens erhalten.» - unsplash

Über deren Ende gibt es verschiedene Thesen. Was hingegen verbrieft ist: Der Ableger im Serapeion, einem ägyptisch-hellenistischen Tempel in Alexandria, wurde Ende des vierten Jahrhunderts von einem christlichen Mob zerstört. Zehntausende Schriftrollen dürften dabei vernichtet worden sein.

Zum Glück blieb insgesamt ein respektabler Teil des antiken Wissens erhalten, teilweise dank früheren Abschriften und Übersetzungen ins Arabische und ins Persische.

So floss es dann über Umwege vornehmlich ab dem Spätmittelalter und während der Renaissance zurück in die europäischen Bildungseinrichtungen, die in wichtigen Handelsmetropolen gegründet worden waren.

Klosterschulen waren zweifellos wichtige Vorläufer für die späteren, zunehmend weltlich ausgerichteten Bildungseinrichtungen. Das frühe christliche Monopol kam nicht von ungefähr: Ende des 4. Jahrhunderts erklärte der fromme römische Kaiser Theodosius I. den christlichen Glauben zur Staatsreligion.

Bibel.
«Das Mittelalter war nicht so einhellig dunkel, wie es teilweise dargestellt wird», so Andreas Kyriacou. - keystone

Mit seinen Erlassen gegen das Heidentum, aber auch gegen christliche Häretiker räumte er nicht nur dem Christentum eine Vormachtstellung ein, er sorgte auch dafür, dass die zersplitterten christlichen Gruppen zu einer Einheit zusammenwuchsen.

Das römische Imperium zerfiel nach Theodosius in zwei Teile, das West- und das Oströmische Reich.

Dennoch war der Grundstein für die Christianisierung Europas gelegt, auch wenn die daraus resultierenden West- und Ostkirchen über die Jahrhunderte reichlich unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen sollten.

Das Mittelalter war nicht so einhellig dunkel, wie es teilweise dargestellt wird. Es zeigt sich jedoch, dass in vielen Wissensgebieten jahrhundertelang zumindest in Europa kaum mehr neue Erkenntnisse gewonnen wurden.

Kirche.
«Ein Grund dafür war, dass Ideen, die der biblischen Lehre zu widersprechen schienen, kaum diskutiert werden konnten», meint Kyriacou. - keystone

Ein Grund dafür war, dass Ideen, die der biblischen Lehre zu widersprechen schienen, kaum diskutiert werden konnten.

So eben auch die Vorstellung, dass nicht die Sonne, um die gemäss Genesis von Gott erschaffene Erde kreist, sondern die Erde nur ein Trabant der Sonne ist – und damit unser Platz im Universum wohl ein ziemlich zufälliger.

Haben wir ganze Jahrhunderte verloren?

Die Frage drängt sich deshalb auf: Wie wäre die Entwicklung wohl ohne Christentum verlaufen? Wären die Erkenntnisse und das ausgefeilte Handwerk des Mechanismus von Antikythera besser erhalten geblieben? Warfen uns der christliche Dogmatismus und das Ausrichten der Schulen auf Bibelkunde um Jahrhunderte zurück?

Geistliche.
«Warfen uns der christliche Dogmatismus und das Ausrichten der Schulen auf Bibelkunde um Jahrhunderte zurück?», fragt sich Andreas Kyriacou. - keystone

Würden wir ohne diesen Stillstand längst Reisen auf den Mars unternehmen? Oder, was vielleicht relevanter erscheint, hätten wir längst ausgefeiltere Methoden zur Energiegewinnung? Hätten wir vielleicht längst bessere Ideen, wie wir der Klimaerwärmung entgegenwirken können?

Zum Autor: Andreas Kyriacou ist Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS), Gründer des Wissensfestivals Denkfest und des humanistisch und wissenschaftlich ausgerichteten Sommerlagers Camp Quest sowie NGO-Vertreter am Uno-Menschenrechtsrat.

Die FVS vertritt die Anliegen der nichtreligiösen Bevölkerung und setzt sich insbesondere für eine weltlich-humanistische Ethik, die Hochhaltung der Menschenrechte und die Trennung von Staat und Kirche ein.

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