«Nein heisst Nein» – diese Revision wurde vom Parlament angenommen. Ein Sieg für die Menschenrechte, wie Amnesty in diesem Gastbeitrag erläutert.
Amnesty
Cyrielle Huguenot ist Verantwortliche für Frauenrechte bei Amnesty International Schweiz - zVg
Ad

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Schweizer Parlament dürfte die Revision des Sexualstrafrechts endgültig abschliessen.
  • Die Neudefinition der Vergewaltigung wird den Zugang zur Justiz für die Opfer verbessern.
  • Diese Reform ist dem Engagement verschiedener Organisationen zu verdanken.

In wenigen Tagen dürfte das Schweizer Parlament die Revision des Sexualstrafrechts nach jahrelangen Beratungen endgültig abschliessen. Die Neudefinition der Vergewaltigung nach dem erweiterten «Nein heisst Nein»-Modell wird den Zugang zur Justiz für die zahlreichen Opfer sexualisierter Gewalt verbessern.

Dies ist ein Sieg für die Menschenrechte in der Schweiz nach einem regelrechten Marathon, der über 80 Organisationen und 50’000 Menschen vier Jahre lang beschäftigt hat.

Istanbul-Konvention brachte den Stein ins Rollen

Der Marathon beginnt im April 2018, als das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in der Schweiz in Kraft tritt.

Der Artikel 36 verpflichtet die Vertragsparteien, jede sexuelle Penetration, die ohne gegenseitiges Einverständnis erfolgt, als Vergewaltigung zu bestrafen – laut dem Schweizer Strafgesetzbuch gelten jedoch nur erzwungene peno-vaginale Penetrationen als Vergewaltigungen.

ARCHIV - Frauen protestieren mit einem Plakat mit der Aufschrift «Nein bedeutet Nein!» beim so genannten «Slutwalk» in der Stuttgarter Innenstadt. In Spanien wurde das Sexualstrafrecht verschärft. Foto: Frank Eppler/dpa
ARCHIV - Frauen protestieren mit einem Plakat mit der Aufschrift «Nein bedeutet Nein!» beim so genannten «Slutwalk» in der Stuttgarter Innenstadt. In Spanien wurde das Sexualstrafrecht verschärft. Foto: Frank Eppler/dpa - sda - Keystone/dpa/Frank Eppler

In seiner Botschaft zur Harmonisierung der Strafrahmen im Strafgesetzbuch Ende April 2018 schlägt der Bundesrat vor, die Definition von Vergewaltigung so zu erweitern, dass sie auch Anal- und Oralverkehr umfasst, und anzuerkennen, dass jede Person unabhängig von ihrem Geschlecht Opfer einer Vergewaltigung sein kann. Der Bundesrat lässt jedoch eine riesige Lücke: Der Begriff des Einverständnisses fehlt im Entwurf völlig.

Amnesty bereitet sich auf eine zweijährige Kampagne vor – inspirieren liessen wir uns von Amnesty-Sektionen anderer Länder, die diesen Marathon bereits hinter sich hatten. Die Kampagne wird schliesslich doppelt so lange dauern.

Amnesty will Vergewaltigung anhand des Zustimmungsprinzip definieren

Das Ziel für das Jahr 2019 war es, der Öffentlichkeit und den Politiker*innen das Ausmass sexualisierter Gewalt in der Schweiz und die Unzulänglichkeit des geltenden Strafrechts zur Bewältigung dieser Gewalt aufzuzeigen.

Eine repräsentative Umfrage des Institut gfs.bern, die von Amnesty beauftragt worden war, brachte ans Licht, was die Kriminalitätsstatistiken verschweigen: das Ausmass der sexualisierter Gewalt, die Frauen erleiden und meistens für sich behalten, ohne sie bei der Polizei anzuzeigen. Im Mai 2019 machten die Zahlen Schlagzeilen und lösten eine Schockwelle aus: Die Kampagne war lanciert.

amnesty
Zahlreiche Aktivistinnen, Aktivisten und Unterstützende riefen in Bern Bundesrätin Karin Keller-Sutter und das neu gewählte Parlament dazu auf, die Definition der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung im Strafgesetzbuch zu ändern. (Bild: Amnesty International, Philippe Lionnet) - zvg

Seitdem befeuert Amnesty die öffentliche Debatte, indem sie die Problematik sexualisierter Gewalt aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert und dem Parlament rät, Vergewaltigung anhand des Zustimmungsprinzips neu zu definieren.

Es war ein langer Weg, um Politiker*innen und die Öffentlichkeit zu überzeugen. Diesen Marathon hätte Amnesty nicht bewältigen können ohne die Unterstützung durch eine Gruppe von direkt betroffenen Frauen.

Die Frauen unterstützten sich gegenseitig dabei, ihre traumatisierenden Erfahrungen in eine treibende Kraft für politische Veränderungen umzuwandeln, und setzten sich den − manchmal persönlich verletzenden − Fragen und Gegenargumenten verschiedenen politischen Gesprächspartner*innen und der Medien aus.

Auch die Unterstützung von Dachorganisationen wie Sexuelle Gesundheit Schweiz und Alliance f, betroffenen Berufsgruppen aus der Justiz und Opferberatung und Politiker*innen aus verschiedenen Parteien war zentral.

Parlament verabschiedete weitere Massnahmen für Opfer sexualisierter Gewalt

Zwei Petitionen, die je von fast 50’000 Personen unterzeichnet wurden, das Engagement der feministischen Streikkollektive, die Kampagnen der SP-Frauen und von Operation Libero, die Frauensession 2021 und die Stellungnahmen von Expert*innen der UNO und des Europarats verliehen unseren Forderungen mehr Gewicht.

Während der Bundesrat und viele Parlamentarier*innen vor vier Jahren keinen Reformbedarf sahen, sprechen sie nun von diesem neuen Gesetz als einem Meilenstein der Legislatur.

sexualstrafrecht
Nein heisst Nein – das Schweizer Sexualstrafrecht wird revidiert. (Symbolbild) - Pexels

Neben der Revision des Sexualstrafrechts verabschiedete das Parlament weitere Massnahmen für eine bessere Betreuung von Personen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, wie die Einrichtung von Krisenzentren, die Aufnahme eines Dialogs zwischen Bund und Kantonen und die Durchführung einer Studie, die die Bedürfnisse der Opfer ermitteln soll.

Auf gesellschaftlicher Ebene haben wir eine wichtige Debatte in Gang gebracht. Das Konzept der Zustimmung wurde nicht nur im Parlament besprochen, sondern auch in Schulen, am Küchentisch und in Gesprächen unter Partner*innen.

Amnesty schliesst diesen Marathon mit Zuversicht ab: Es bleibt noch viel zu tun. Doch solange es nötig ist, werden wir und viele Aktivist*innen die Botschaft «Nur Ja heisst Ja» weiterverbreiten – und hoffen, dass sie irgendwann überall ankommt.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

VergewaltigungMenschenrechteBundesratParlamentAmnesty InternationalGesetzGewaltStudieUNOSP