Narzissmus: Ist sie meine beste Freundin – oder heimliche Rivalin?
«Narzisstische Freundschaft macht dich kleiner und abhängiger.» Unsere Expertin Chris Oeuvray schreibt darüber, wie du Narzissmus in Freundschaften erkennst.

Das Wichtigste in Kürze
- Unsere Kolumnistin Chris Oeuvray schreibt über narzissistische Freundschaften.
- Sie liefert Tipps dafür, wie du diese erkennen kannst.
Vor kurzem sass Emma bei mir in der Praxis. Sie sah müde aus, gleichzeitig ein bisschen ratlos. «Ich weiss nicht mehr, ob Sarah wirklich meine Freundin ist», beginnt sie.
Emma und Sarah kannten sich seit Jahren. Sie gingen gemeinsam durch Trennungen, feierten Geburtstage, verbrachten Urlaube miteinander.
Auf den ersten Blick war es die Art Freundschaft, von der viele träumen: Nähe, Vertrauen, ein fester Platz im Leben.
Doch Emma spürte seit einiger Zeit ein ungutes Gefühl. «Wenn ich von meinem Tag erzähle, hört sie zu. Aber am Ende geht es immer um sie», sagt sie leise.
Ein Beispiel: Als Emma neulich im Job befördert wird, meint Sarah nur: «Ach, das ist doch nichts Besonderes. Ich hatte damals eine viel grössere Herausforderung.»
Wenn Emma von einer anstrengenden Woche spricht, hat Sarah sofort eine noch härtere. Und wenn Emma ein Problem anspricht, rückt Sarah das Gespräch unmerklich auf ihre eigenen Sorgen.
Was Emma dabei auffällt: Nach jedem Treffen fühlt sie sich leerer als vorher. Nicht gestärkt, sondern ausgelaugt.

Narzissmus zeigt sich auch in Freundschaften
Viele Menschen verbinden Narzissmus sofort mit Partnerschaften. Doch er kann genauso in Freundschaften wirken. Oft subtiler, weil wir Freundschaft mit bedingungsloser Unterstützung gleichsetzen.
Doch eine narzisstisch geprägte Freundin verfolgt ein anderes Ziel: Sie möchte im Mittelpunkt stehen, Aufmerksamkeit binden – und sich über dich erhöhen.
Nähe wird vorgetäuscht, doch in Wahrheit geht es um Macht und Selbstbestätigung.
Typische Muster sind:
Neid: Deine Freude wird kleingeredet oder sofort übertroffen. Statt mit dir zu feiern, zieht sie dich unmerklich runter.
Abwertung: Spöttische Kommentare tarnen sich als «Scherz». Sie verletzen, doch wenn du es ansprichst, heisst es: «Stell dich nicht so an.»
Drama: Ständig neue Krisen halten dich in der Rolle der Unterstützerin. Du hast das Gefühl, nie genug geben zu können.
Die leisen Warnsignale
Narzisstische Freundschaften fallen nicht sofort auf, weil sie selten durchgehend toxisch sind. Es gibt auch Momente voller Nähe, Spass und Offenheit. Das macht es so schwer, die Dynamik zu durchschauen.
Doch wenn du genau hinschaust, erkennst du bestimmte Warnsignale:
Ungleichgewicht: Deine Themen verschwinden, ihre dominieren.
Schuldgefühle: Du fühlst dich verantwortlich, wenn sie beleidigt ist oder schmollt.
Energieverlust: Nach Treffen bist du erschöpft, nicht erfüllt.
Konkurrenz: Sie gönnt dir nichts, sondern vergleicht sich ständig mit dir.
Kontrolle: Sie entscheidet, wann ihr euch trefft, worüber ihr redet, wer dazugehört.
Emma berichtet: «Manchmal lacht sie mich sogar aus, wenn ich etwas Persönliches teile. Ich lache dann mit, aber innerlich tut es weh.»
Fünf Schritte, um Klarheit zu gewinnen
Wenn du dich in Emmas Geschichte wiedererkennst, kannst du dir folgende Fragen stellen:
1. Hör auf dein Bauchgefühl. Fühlst du dich nach Treffen kleiner – oder grösser? Dein Körper lügt nicht.
2. Prüfe das Gleichgewicht. Wer redet mehr, wer hört mehr zu?
3. Setze Grenzen. Sprich aus, wenn dir ein Kommentar wehtut. Eine echte Freundin wird zuhören – eine narzisstische wird ablenken oder angreifen.
4. Teste die Freude. Beobachte, wie sie reagiert, wenn du Erfolge teilst. Freude oder Konkurrenz?
5. Sei ehrlich zu dir. Eine Freundschaft, die dich ständig schwächt, verdient diesen Namen nicht.

Warum narzisstische Freundschaften lange halten
Das Erstaunliche ist: Solche Freundschaften halten länger als toxische Partnerschaften.
Warum? Weil wir viel toleranter sind. Bei einem Partner ziehen wir schneller Konsequenzen. Doch bei einer Freundin sagen wir uns: «Sie ist halt so.»
Nähe war nur gespielt
Wir übersehen die kleinen Sticheleien, die ständige Konkurrenz, die Abwertung, weil wir den Glauben an die «beste Freundin» nicht aufgeben wollen.
Genau das macht diese Dynamik so gefährlich: Sie wirkt über Jahre, manchmal über Jahrzehnte.
Emma braucht lange, um zu erkennen: Sarah war keine beste Freundin, sondern eine heimliche Rivalin. Die Nähe war nur gespielt, ihr wurde dadurch viel Energie entzogen.
Echte Freundschaft macht dich leichter, grösser und freier. Narzisstische Freundschaft dagegen macht dich kleiner, müder und abhängiger. Manchmal so subtil, dass du es erst spät bemerkst.
Und jetzt bist du dran!
Hast du auch schon erlebt, dass eine vermeintliche Freundin mehr Rivalin als Verbündete war? Schreib es in die Kommentare – deine Geschichte könnte anderen die Augen öffnen.
Zur Person: Chris Oeuvray ist Expertin für Narzissmus, psychologische Beraterin und Autorin («Narzissmus – ohne mich», weitere Bücher auf ch-oeuvray.ch) aus Zug.