Meret Schneider: «Gibt Migros Tierwohlziele auf?»
«Die Migros-Strategieänderung in Richtung Preissenkungen auf Kosten von Tieren und Umwelt hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack», schreibt Meret Schneider.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Migros kündigt Preissenkungen an.
- Druck erhöhen will die Migros bei internationalen Lieferanten.
- Meret Schneider sorgt sich in der Kolumne um Nachhaltigkeit und Tierwohl.
Ich bin – oder besser gesagt, ich war – ein Migros-Kind. Ob die Glacéstängeli mit den Affen und Seelöwen oder der legendäre Eistee: mit der Migros sind Kindheitserinnerungen verbunden, die mich beim Anblick der Glacétiere noch immer das Chlor und das Frittieröl der Badi-Pommes-Frites riechen lassen, wenn ich sie sehe.
Trotzdem meide ich die Migros inzwischen, und dies aus gutem Grund.
Nicht nur haben die vielen Entlassungen und die fragwürdige Mitarbeiterpolitik im Zuge des Verkaufs der Sport-X und der Elektronik- und Gartenfachgeschäfte sichtbare Kratzer in der sozialen Fassade der Genossenschaft hinterlassen.
Auch die Strategieänderung in Richtung Preissenkungen auf Kosten der Tiere und der Umwelt hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack.
Die Kundinnen und Kunden hätten mit zu hohen Preisen die gescheiterte Strategie der Migros finanziert, liess Mario Irminger, Chef der Migros, in der «Rundschau» von SRF verlauten.
Der Verlust von über fünf Prozent Marktanteil in den letzten zehn Jahren führt er auf strategische Fehler und wenig Sensibilität für veränderte Kundenbedürfnisse zurück.
Preisoffensive mit Vergünstigungen
Tiefere Preise und der Trend zu kleineren Läden sollen nun diesem Kundenbedürfnis gerecht werden und das Migros-Schiff wieder in sichere Gewässer steuern. Ungeachtet dessen, dass andere Detailriesen erfolgreich in diesen Gewässern fischen. Auch wenn sie gegen den Strom der günstigen Preise und billigen Importe segeln.
Konkret bedeuten die Ankündigungen des Migros-Chefs eine Preisoffensive mit Vergünstigungen auf 60 Artikel aus dem Gemüse- und Fruchtsortiment per sofort. Und Preissenkungen auf über tausend Artikeln bis im nächsten Jahr.
Hochgerechnet auf den Gesamtumsatz ergeben die Preissenkungen einen Rabatt von drei Prozent, der sich über die nächsten vier bis fünf Jahre um bis zu zwei Milliarden auf den Umsatz auswirken wird.
Die Bauern würden, so die Ankündigung, preislich nicht unter Druck gesetzt. Das sei ein Versprechen, betonte Irminger gegenüber der «Rundschau». Das lässt erst einmal aufatmen.
Druck bei internationalen Lieferanten erhöhen
Bereits der nächste Satz lässt den Atem aber wieder stocken: Druck erhöhen will die Migros nämlich bei den internationalen Lieferanten. Dass dies nicht ohne Abstriche bei Nachhaltigkeit und Tierwohl funktioniert, versteht sich von selbst.
Und wird von der Migros leider auch gleich selber in die Strategie eingepreist und entsprechend kommuniziert: «Ein M nachhaltiger, ein M tierfreundlicher» – diese Slogans dürften der Vergangenheit angehören.
Es wäre zu teuer gekommen
So hat die Migros das Ziel aufgegeben, bei Importfleisch gleiche Mindeststandards zu garantieren wie bei Schweizer Fleisch. Importierte Bioartikel werden entgegen der ursprünglichen Planung nun doch nicht den strengeren Bio-Suisse-Richtlinien unterstellt.
Mit geschickten marketingstrategischen Statements werden diese fundamentalen Ziele über Bord geworfen: Die Sache wäre zu teuer gekommen.
Migros informiere die Kundschaft über Ökologie und Nachhaltigkeit im Sinne von Aufklärung, aber: «Wir wollen das Volk nicht erziehen. Wir verkaufen das, was nachgefragt ist.» Nun, es bleibt zu beobachten, ob dies tatsächlich der postulierten Nachfrage entspricht.
Trend bei deutscher Konkurrenz
Glücklicherweise scheint Coop noch nicht auf diesen Zug aufgesprungen zu sein und hält an Nachhaltigkeits- und Tierwohlzielen bis dato fest. Und bei der deutschen Konkurrenz, der aufgrund der günstigeren Preise oft zu Unrecht das Image eines weniger tier- und umweltfreundlichen Sortiments und generell geringerer Standards bei der Lebensmittelproduktion anhaftet, lässt sich gar ein Trend in die entgegengesetzte Richtung feststellen.
Das sind die Aldi-Pläne
Seit 2023 stammt beispielsweise bei Aldi Suisse sämtliches Rinds-, Kalbs- und Schweinefleisch bei Standard-Eigenmarken vollständig aus der Schweiz. Importiertes Pouletfleisch stammt aus Betrieben, bei denen die Produktionsrichtlinien über der Schweizer Gesetzgebung liegen. Das bedeutet: Es erfüllt mindestens die Tierwohlanforderungen des Programms BTS (Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme).
Bis Ende 2025 soll auch tiefgekühltes Pouletfleisch zu 100 Prozent den Schweizer Tierschutzstandards entsprechen, inklusive Importfleisch. Auch das vegetarische und vegane Sortiment will Aldi im Gegensatz zur Migros ausbauen und den Milchbauern höhere Produzentenpreise gemäss Ankündigung zahlen.
Verkennt also die deutsche Detailhändlerin die Zeichen der Zeit, wenn sie eine ambitioniertere Nachhaltigkeitsstrategie präsentiert und das Bio- und Labelsortiment ausbaut? Ich hoffe nicht und hoffe ebenfalls, dass auch Coop sich nicht durch den Schlingerkurs der Migros vom Weg in Richtung mehr Tierwohl und Ökologie abbringen lässt.
Wir Konsumierenden, und davon bin ich überzeugt, sind durchaus bereit, auf die drei Prozent Rabatt zu verzichten. Wenn klar kommuniziert wird, dass der geringe Mehrpreis tatsächlich den Tieren, den Produzierenden und der Umwelt zugutekommt.
Und vielleicht heisst es beim Tierwohl bald nicht mehr ein M tierfreundlicher, sondern ein A ambitionierter?
Zur Person: Meret Schneider (31) war von 2019 bis 2023 Mitglied des Schweizer Nationalrats. Nach dem Rücktritt von Bastien Girod rückt sie Ende 2024 wieder in den Nationalrat nach. Sie arbeitet als Projektleiterin beim Kampagnenforum. Weiter ist sie Vorstandsmitglied der Grünen Partei Uster ZH.