Wie das Dorf Blatten verschwunden ist und neu entstehen soll
Am 28. Mai verschüttete ein Gletscherabbruch das Walliser Dorf Blatten. Das Dorf soll nun wieder aufgebaut werden.

Es ist eine Naturkatastrophe historischen Ausmasses gewesen: Ein gigantischer Gletscherabbruch hat am 28. Mai das Walliser Dorf Blatten unter sich begraben. Das schlimmste Szenario trat damit ein. Doch das zerstörte Dorf soll wieder aufgebaut werden. Eine Chronologie der Ereignisse:
- 17. Mai, am Nachmittag: Am Kleinen Nesthorn oberhalb von Blatten kommt es zu einem Felsabbruch. Das Geröll landet auf dem Birchgletscher und reisst einen kleinen Teil davon mit. Der Murgang stoppt rund 500 Meter oberhalb des Flusses Lonza und ausserhalb des Dorfes. Die Behörden sperren zwei Wanderwege.
- 17. Mai, am Abend: Die Gemeindebehörden ordnen die Evakuation eines Teils von Blatten an. 92 Einwohnerinnen und Einwohner sowie 16 Gäste im Dorf müssen ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Betroffen ist zunächst der Dorfteil südlich der Lonza.
- 19. Mai, am Vormittag: Die Evakuation wird ausgeweitet. Betroffen sind nun insgesamt rund 300 Personen. Experten fürchten einen massiven Bergsturz in den folgenden Stunden oder Tagen. Es könnten laut Experten bis zu drei Millionen Kubikmeter Material ins Tal donnern.
Eventuell könnten sich sogar bis zu fünf Millionen Kubikmeter Geröll und Eis zu Tal bewegen, sagt der Gemeindepräsident von Blatten, Matthias Bellwald, vor den Medien. Dennoch äussert Bellwald auch die Hoffnung, dass die evakuierten Menschen so rasch wie möglich wieder zurückkehren könnten.
- 19. Mai, am Abend: Ein Teil des Gipfels des Kleinen Nesthorns bricht ab. Um das befürchtete Grossereignis handle es sich nicht, versichert der Regionale Führungsstab Lötschental. 150'000 bis 200'000 Kubikmeter Gestein hätten sich in Stücken gelöst. Laut GPS-Messungen hatte sich die Senkung am Berg in der Woche zuvor stark beschleunigt.
- 21. Mai: Die Lage bleibt angespannt. Es kommt wie in den Tagen zuvor zu weiteren kleinen Felsabbrüchen. Der Geröllhaufen auf dem Birchgletscher wächst. Dass der Berg portionenweise abbreche, ohne dass es zu direkten Schäden im Tal komme, sei das beste der denkbaren Szenarien, versichern die Verantwortlichen.
- 22. Mai: Der Druck auf den Birchgletscher wächst. Im Bereich der Gletscherfront gebe es eine Beschleunigung der Bewegung, erklärt Ingenieur Alban Brigger von der Dienststelle für Naturgefahren des Kantons Wallis vor den Medien. Anhand von Bildern zeigt Brigger auf, dass sich auf dem Gletscher mittlerweile ein massiver Schuttkegel gebildet hat. Am Abend bricht ein weiterer Teil des akut instabilen Gesteins am Kleinen Nesthorn ab.
- 23. Mai: Der Gletscher bewegt sich erneut schneller. «Die Bewegung des Gletschers beträgt derzeit rund zwei Meter pro Tag», sagt der stellvertretende Informationschef des Regionalen Führungsstabs, Jonas Jeitziner. Zwar rechnen die Experten inzwischen eher nicht mehr mit einem Bergsturz mit grösseren Mengen Material.
Umso mehr Sorge bereitet ihnen der Gletscher. Am Abend stürzt der zuvor höchste Punkt des Kleinen Nesthorns ab.
- 24. Mai: Weitere Felsabbrüche und Eislawinen. Die Geschwindigkeit der Bewegung des Gletschers steigt an. Sie habe sich von Freitag auf Samstag verdoppelt und betrage nun rund vier bis viereinhalb Meter pro Tag, heisst es vom Regionalen Führungsstab.
- 25. Mai. Der Gletscher bewegt sich weiter in Richtung Tal. Immer wieder kommt es zu Felsstürzen und Eislawinen. Noch gelangt das Material aber nicht bis ins Dorf Blatten.
- 26. Mai: Weitere Abbrüche. Der Gletscher sei nach wie vor in Bewegung, zuletzt rund 2,5 bis 3,5 Meter pro Tag, geben die Behörden bekannt. Die grösste Gefahr sei aktuell, dass der Gletscher in einem Mal abbrechen könnte.
- 27. Mai: Die Gletscherabbrüche nehmen markant zu. Die Gletscherfront habe sich zuletzt mit einer sehr grossen Geschwindigkeit von rund zehn Metern pro Tag bewegt, teilt der Regionale Führungsstab mit.
- 28. Mai: Der Kanton Wallis ruft die besondere Lage aus. Wenige Stunden später tritt das Worst-Case-Szenario ein: Blatten wird zum grössten Teil unter einer gigantischen Lawine aus Eis, Schlamm und Geröll begraben und zerstört.
Das Wasser staut sich in der Folge am durch den Gletschersturz entstandenen Schuttkegel, bildet einen See und zerstört auch noch die verbliebenen Häuser. Ein 64-jähriger Mann wird nach dem Unglück vermisst.
- 29. Mai: Die Behörden fürchten, dass der See hinter dem Schuttkegel überläuft und einen riesigen Murgang auslöst. Noch am Mittwochabend werden daher Teile der Dörfer Wiler und Kippel evakuiert. in Gampel und Steg im Rhonetal werden Brücken gesperrt oder demontiert.
Ein Einsatz auf dem stellenweise bis zu hundert Meter hohen Schuttkegel ist nicht möglich- weder für die ins Katastrophengebiet entsandten Armeeangehörigen noch für zivile Helfer. So bleibt es auch in den folgenden Tagen. Zu instabil sind die Gesteinsmassen.
- 29. Mai: Die Glückskette ruft zu Spenden auf für das Bergsturzgebiet im Lötschental. Sie will Betroffene direkt finanziell unterstützen, aber auch Betrieben mit Einkommensverlusten unter die Arme greifen.
- 30. Mai: Im Zusammenhang mit dem Bergsturz haben inzwischen 365 Menschen in Blatten ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen. Der Gemeindepräsident Matthias Bellwald spricht davon, dass ein «neues Blatten» entstehen soll. Bundespräsident Karin Keller-Sutter zeigt sich nach einem Überflug des Katastrophengebiets erschüttert.
Wasser der Lonza fliesst über die gewaltige Geröllhalde. Es bilden sich Bäche und kleine Seen auf dem Schutzkegel. Die Gemeinden unterhalb des Bergsturzes im Lötschental und auch im Rhonetal bereiten sich auf den Ernstfall vor.
In Gampel und Steg werden Dämme errichtet. Die Bevölkerung ist angewiesen, sich auf eine mögliche Evakuierung vorzubereiten.
- 31. Mai: Die Lonza bahnt sich ihren Weg durch den Schuttkegel und fliesst von dort Richtung Stausee Ferden. Am Abend ordnet die Kantonsregierung an, dort die Schleusen zu öffnen. Dies, damit der Stausee im Falle eines Murgangs weiterhin als Rückhaltebecken dienen kann. Denn der Spiegel des Sees steigt wieder, obwohl er zuvor entleert worden war.
- 2. Juni: Die Suche nach dem Vermissten wird wieder aufgenommen. Zugleich eröffnet die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung in dem Fall. Es gehe darum, herauszufinden, ob der Vermisste gegen eine Anordnung verstossen habe oder ob er sich in einem Gebiet befunden habe, in dem er sich aufhalten durfte, erklärt die zuständige Staatsanwältin. Der Schuttkegel des Bergsturzes ist laut dem Chef der Walliser Dienststelle für Naturgefahren stellenweise über 100 Meter hoch.
- 4. Juni: Der Walliser Staatsrat gibt für die Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten Sofortmassnahmen von zehn Millionen Franken frei. Eine Strategiegruppe soll sich mit dem Wiederaufbau des Ortes befassen. Die Glückskette hat Spendenzusagen von über 11 Millionen Franken erhalten.
- 5. Juni: Die grosse Solidaritätswelle zugunsten von Blatten geht weiter. Zahlreiche Gemeinden und Kantone aus der ganzen Schweiz sprechen Gelder. Der Zürcher Regierungsrat und der Berner Regierungsrat geben beispielsweise je 500'000 Franken an Soforthilfe frei.
- 6. Juni: Der Bundesrat beantragt fünf Millionen Franken Soforthilfe für Blatten. Der Ständerat spricht sich am 10. Juni und der Nationalrat am 12. Juni einstimmig dafür aus. Bundesrat Albert Rösti spricht sich grundsätzlich für den Wiederaufbau von Blatten aus. Eine Entsiedelung der Täler sei keine Option.
- 7. Juni: Laut Experten ist Blatten auf der aktuellen Gefahrenkarte des Kantons Wallis nicht als Risikogebiet eingestuft. Der Grund dafür ist, dass es sich dabei um ein unerwartetes Ereignis gehandelt habe, das es so noch nie gegeben hatte in der Schweiz.
- 13. Juni: Blatten soll in drei bis fünf Jahren wieder aufgebaut werden. An einer Urversammlung der Gemeinde präsentierten die Behörden den vorläufigen Fahrplan für den Wiederaufbau. Auch das Kantonsparlament fordert rasche Massnahmen für den Wiederaufbau. Inzwischen haben die ersten grösseren Räumungsarbeiten begonnen.
- 16. Juni: Die Armee kann wegen der Gefahr von Felsabbrüchen am Kleinen Nesthorn im Bergsturzgebiet vorerst nicht zum Einsatz kommen. Die Patenschaft für Berggemeinden hat derweil bereits 7,5 Millionen Franken Spenden zugesichert.
- 17. Juni: Der Bergsturz und die daraus resultierenden Überschwemmungen haben Schäden von rund 320 Millionen Franken verursacht. Davon entfallen rund 260 Millionen Franken auf Schäden an Gebäuden und Hausrat, schätzen die Schweizer Privatversicherer.
- 20. Juni: Die Schweizer Armee entfernt nun Schwemmholz und Trümmer auf dem neu gebildeten See im Bergsturzgebiet. Der Katastrophenhilfe-Einsatz der Armee ist vorerst bis zum 26. Juni bewilligt und wird anschliessend verlängert.
- 24. Juni: Im Rahmen einer Suchaktion sind im verschütteten Gebiet menschliche Überreste gefunden und geborgen werden. Zwei Tage später ist klar, es handelt sich um den seit dem 28. Mai vermissten Mann im Gebiet Tennmatten in Blatten.
- 26. Juni: Der Kanton Wallis richtet eine Spendenkommission für die Einwohnerinnen und Einwohner von Blatten ein. Nach dem Bergsturz vor bald einem Monat waren in den vergangenen Wochen rund 57 Millionen Franken an verschiedenen finanziellen Hilfen und Spenden zusammengekommen. Die Kommission soll die Spenden verwalten und verteilen.
- 10. Juli: Sechs Wochen nach dem Bergsturz sind Armeeangehörige weiterhin mit der Räumung des entstandenen Sees von Schwemmholz und anderen Trümmern beschäftigt. Weil das Gebiet für Lastwagen nicht zugänglich ist, wird das eingesammelte Holz vor Ort verbrannt.
- 22. Juli: Die Tourismusverantwortlichen im Lötschental versuchen, Reisende mit neuen Wanderangeboten anzulocken. Ein Postautobetrieb hat ein neues Angebot lanciert, mit dem bislang weniger begangene Wandergebiete besser erschlossen werden.
- 8. August: Vom Weltraum aus waren Warnzeichen für den Bergsturz in Blatten VS bereits Jahre vor dem Unglück sichtbar. Wie eine neue Analyse von Satellitenbildern der Europäischen Weltraumagentur ESA zeigt, bewegte sich der Hang beim Kleinen Nesthorn bereits im Jahr 2016. Diese Bewegungen nahmen über die Jahre kontinuierlich zu und verstärkten sich deutlich bis zum Bergsturz.
- 9. August: Die Schweizer Armee steht nach wochenlangem Einsatz vor dem Abzug. Der Grossteil des Treibholzes auf dem Blattensee wurde von ihr entfernt.
- 12. August: Blatten soll nach dem verheerenden Bergsturz bereits 2029 wieder stehen. Gemeindepräsident Matthias Bellwald stellte entsprechende Pläne an der Gemeindeversammlung vor. Auf der Lauchernalp soll ein 3-Sterne-Hotel mit 45 bis 60 Betten errichtet werden. Geplant ist, das Hotel im Ski- und Wandergebiet oberhalb von Wiler bereits bis Weihnachten zu eröffnen.
- 20. August: Mehrere zerstörte Strassen sollen in Blatten möglichst rasch wiederhergestellt werden. Die Kantonsregierung beschliesst, die Arbeiten von einer öffentlichen Auflage und dem öffentlichen Beschaffungsrecht auszunehmen. Zudem unterstützt der Kanton den Bau eines provisorischen Hotels auf der Lauchenalp finanziell.
- 3. September: Der Walliser Staatsrat und die Gemeindebehörden stellen einen Fahrplan für den Aufbau von Blatten vor. Dieser enthält eine Fülle von Massnahmen in Bereichen der Raumplanung, der Mobilität und der Wirtschaft bis Ende 2029. Grösster Unsicherheitsfaktor für die Umsetzung ist die Entwicklung bei den Naturgefahren.
- 19. September: Weniger als vier Monate nach dem verheerenden Bergsturz hat die Gemeinde Blatten den Spatenstich für den Bau eines neuen Dorfes gesetzt. Die symbolische Handlung fand in der Nähe der Ruine des zerstörten Gemeindehauses statt. «Ein Blatten ohne Lötschental oder ein Lötschental ohne Blatten ist keine Option», bekräftigte Gemeindepräsident Matthias Bellwald anlässlich einer kleinen Feier.
- 3. Oktober: Der Vizepräsident von Blatten wird wegen Betretens des Sperrgebiets nach dem Bergsturz per Strafbefehl verurteilt. Das Betretungsverbot für die Zone war am 1. Juni, vier Tage nach der Katastrophe, erlassen worden. Laut der Staatsanwaltschaft Oberwallis gibt es insgesamt ein Dutzend Anzeigen in diesem Zusammenhang.
- 10. Oktober: Die Stromversorgung in den «noch bewohnbaren» Häusern in Blatten ist wiederhergestellt. Dies betrifft auch die Gebiete, Weiler und Alpen von Tellialp, Weissenried, Gletscheralp, Eisten und Fafleralp.
- 11. Oktober: Über 70 Freiwillige führen im benachbarten Weiler Weissenried eine gross angelegte Reinigungsaktion durch. Der Ort war zwar von den Schuttmassen verschont geblieben, doch eine gewaltige Staubwolke hatte Spuren an den historischen Gebäuden hinterlassen.
- 17. Oktober: Der Kanton Wallis hat die ersten Spenden an Blattnerinnen und Blattner ausbezahlt. Bisher seien 25 Gesuche um Unterstützungsbeiträge in der Höhe von insgesamt 1,4 Millionen Franken bewilligt worden, teilte die Spendenkommission mit.
- 7. November: Fünfeinhalb Monate nach dem Bergsturz hat der Kanton Wallis seine Naturgefahrenkarte angepasst. Der Weiler Ried kann nicht wieder aufgebaut werden, und die Gemeinde Blatten liegt zu 70 Prozent in der roten Gefahrenzone, die unbebaubar ist.






