Im Postauto wird weniger gegrüsst – Chauffeure störts. Soziologin Katja Rost erklärt im Interview die Gründe. «Wir grüssen nicht einmal mehr den Nachbarn.»
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Chauffeure freuen sich über ein «Grüezi» im Postauto – das passiert heute aber immer weniger. (Symbolbild) - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Nau.ch berichtete kürzlich: Im Postauto wird weniger gegrüsst als früher.
  • «Manche Fahrgäste merken wohl gar nicht mehr, dass ich hier sitze», so ein Chauffeur.
  • Katja Rost zieht einen Vergleich zum Flugzeug. Auch dort gingen Normen verloren.
  • Im Interview sagt die Soziologin: «Früher haben alle applaudiert – heute schämen wir uns.»
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«Wenn ich Gäste im Postauto mit einem ‹Grüessech› willkommen heisse, kommt immer seltener etwas zurück. Im Gegenteil: Viele Leute ziehen einen Lätsch und schweigen. Dass ich hier vorne am Steuer sitze, bemerken manche wohl gar nicht», klagte Chauffeur Peter F.* kürzlich bei Nau.ch.

Postauto und die Gewerkschaft Syndicom bestätigen: In der Tendenz grüssen «Poschi»-Passagiere heute weniger. Doch warum?

Im Nau.ch-Interview liefert Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich, Antworten. «Die Leute grüssen heute auch nicht mehr an der Haltestelle. Warum sollen sie dann den Chauffeur grüssen?»

Katja Rost Postauto Grüssen
Katja Rost ist Soziologin und lehrt an der Universität Zürich. - Uni Zürich

Nau.ch: Postauto-Chauffeure wünschen sich, dass wieder mehr gegrüsst wird. Werden wir immer unhöflicher?

Katja Rost: Mir kommt gleich die «Bowling alone»-Theorie in den Sinn.

Nau.ch: Alleine Bowlen macht doch keinen Spass ...

Rost: Die Theorie besagt, dass wir immer weniger Dinge gemeinsam machen. Soziales Kapital geht verloren. Es leidet vor allem das gröbere soziale Umfeld am Wohnort.

Nau.ch: Leute wie der Postauto-Chauffeur?

Rost: Ein gutes Beispiel ist auch die Nachbarschaftshilfe. Einige Nachbarn kennen sich heute nicht, auch wenn sie zehn Jahre nebeneinander wohnen. Viele haben noch überhaupt nie Kontakt miteinander gehabt.

Nau.ch: Wir wollen keinen Kontakt mehr?

Rost: Wir suchen ihn nicht mehr. Jeder jagt viel mehr den eigenen Lebensträumen hinterher, es findet eine Individualisierung statt. Wir leben in einer immer stärkeren funktionalen Differenzierung, ohne das zu merken.

Nau.ch: Funktionale Differenzierung?

Rost: Wir teilen unsere Persönlichkeit auf zwischen Arbeit, Behördengängen und so weiter. Da ist jeder unheimlich mit sich selbst beschäftigt. Für ganz viele wichtige Sachen bleibt überhaupt keine Zeit mehr.

Postauto
Im Postauto war es lange Zeit gang und gäbe, dass man nach dem Einsteigen den Chauffeur begrüsst.
Postauto
Heute ist dies keine Selbstverständlichkeit mehr.
Postauto
Chauffeure und die Firma Postauto bestätigen, dass die Begrüssung etwas verloren gegangen sei.
Postauto
Schade, finden die Chauffeure. Postauto sagt, dass die Begrüssung eigentlich auch ein wenig zur DNA dazu gehöre.
Postauto
Einer der Gründe: Das Billett wird heute oft am Handy schon gekauft, nicht mehr beim Chauffeur.

Nau.ch: Wie zeigt sich das konkret im Alltag?

Rost: Wann hat man sich das letzte Mal ein Ei oder Milch ausgeliehen vom Nachbarn? Das war früher normal. Sicher haben wir heute mehr Einkaufsmöglichkeiten, früher konnte man noch nicht schnell zum HB. Aber wir suchen den Kontakt nicht mehr. Weil wir denken, der andere zieht vielleicht nach zwei Jahren sowieso wieder um.

Es gibt heute viele Expats, manche kommen nur, um zu studieren. Man ist ständig auf der Reise und kommt nirgends richtig an.

Ein Ort, der beim Ankommen helfen würde, sind Quartierläden. Solche Läden, wo man Quatsch und Tratsch austauscht. Doch wo gibt es die noch?

Nau.ch: Gibt es einen Stadt-Land-Graben?

Rost: Je anonymer ein Ort ist, desto mehr geht so etwas verloren.

Begrüsst du den Chauffeur, wenn du in das Postauto einsteigst?

Nau.ch: Bei Nau.ch beklagte sich aber auch ein Postauto-Chauffeur, dass auf einer ländlichen Strecke weniger gegrüsst wird.

Rost: Wir bewegen uns heute viel mehr in isolierten Gruppen. Zum Beispiel im Yoga-Kurs oder in der Studentenvereinigung. Dafür kennen wir nicht mehr die Leute aus dem Wohnquartier oder aus der näheren Umgebung. Wir kennen den Coiffeur nicht mehr. Dieser ganze Kit-Stoff der Gesellschaft nimmt immer mehr ab.

Nau.ch: Hauptsache, das Postauto fährt pünktlich ab?

Rost: Etwas überspitzt gesagt, ja. Man beschäftigt sich gar nicht mehr so sehr mit den Leuten. Der Fahrer macht seinen Job und das ist selbstverständlich. Es ist keine Wertschätzung mehr dabei wie früher. Warum soll ich den Busfahrer grüssen, wenn ich die Person an der Haltestelle auch nicht mehr grüsse?

Viele Leute kommen mittlerweile auch aus anonymen Orten. Beispiel Zürich: Es hat viele Internationale, die in Grossstädten aufgewachsen sind. Die kennen das Grüssen im Bus gar nicht – für die ist das sogar total weird.

Nau.ch: Schuld sind also vor allem die Städter und die Expats ...

Rost: Sie sind ein Teil davon. Der Mensch ist ein Gruppentier. Wenn eine Person nicht mehr grüsst, dann kann diese soziale Norm ziemlich schnell kaputtgehen.

Wie schnell eine Norm erodieren kann, zeigt sich beispielsweise im Flieger. Vor Jahren hat man dem Piloten nach der Landung noch applaudiert. Diese soziale Norm ist heute mehr oder weniger zerfallen. Heute getraut man sich dies nicht mehr zu machen. Wenn ich applaudiere, gehöre ich zu den Doofis, die nie fliegen.

Nau.ch: Können Normen zurückgewonnen werden?

Rost: Ja. Aber wenn die Norm einmal weg ist, dann ist es schwerer, sie wieder zu aktivieren.

Nau.ch: Von Postauto hört man, dass einige Chauffeure nun extra freundlich sind. Und sich so das «Grüezi» zurückerkämpfen wollen. Eine gute Idee?

Rost: Ja! Viel hängt von den Chauffeuren ab, ob sie nun aufgeben oder nicht. Wenn der Chauffeur höflich grüsst, fühlt man sich positiv überrascht und grüsst zurück. Man gewöhnt sich so ein Verhalten dann auch wieder an.

Man merkt, ‹ah, ich bin dem Chauffeur nicht egal.› Mit Freundlichkeit kann das Nachbarschaftsgefühl wieder erzeugt werden.

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