Elisa Shua Dusapin erzählt eine zartbittere Schwestern-Geschichte

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Bern,

In ihrem vierten Roman «Damals waren wir unzertrennlich» erzählt die Autorin Elisa Shua Dusapin von zwei Schwestern zwischen Nähe und Spannung.

Elisa Shua Dusapin
In «Damals waren wir unzertrennlich» erzählt Elisa Shua Dusapin von zwei Schwestern zwischen Nähe und Spannung. (Archivbild) - sda

In ihrem vierten Roman «Damals waren wir unzertrennlich», dem dritten auf Deutsch, erzählt Elisa Shua Dusapin von zwei Schwestern. Deren einst innige Zuneigung hat sich zu knisternd aggressiver Anspannung gewandelt.

Agathe und Véra haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Der Umstand, dass das Haus des verstorbenen Vaters geräumt werden muss, führt sie für ein paar Novembertage zusammen. Doch über dem Wiedersehen liegt ein Schatten. Die Jahre, als sie unzertrennlich waren, liegen weit zurück.

Während Véra noch immer in der Region Périgord lebt, reist die Ich-Erzählerin Agathe aus New York an, wo sie sich als Dialogschreiberin zu behaupten versucht. Auch in diesen Tagen muss sie arbeiten. Als Teil eines Teams schreibt sie mit am Drehbuch für eine Verfilmung von Georges Perecs Roman «W oder die Kindheitserinnerung».

Aggressive Spannung und Schweigen

Schon bei der Begrüssung knistert zwischen den beiden eine aggressive Anspannung, die aber von der Erzählerin auszugehen scheint. Ihr kommt Véras Lächeln «zu gross für ihren Mund» vor, weshalb sie die Freundlichkeit ihrer Schwester mit kühler Zurückhaltung beantwortet. Véra aber bewahrt die Ruhe und bleibt stumm. Letzteres hat seine Gründe.

Mit sechs Jahren verlor sie die Sprache. Auf einmal mitten im Gespräch verzerrte sich ihr Gesicht, sie begann zu stöhnen und zu gluckern und brachte «seitdem kein Wort mehr» heraus. Kurz danach verliess die Mutter die Familie. Beim Wiedersehen staunt Agathe noch immer, dass Véra zwar stumm ist, aber nicht blöd. Immerhin hat auch sie Perec gelesen. Die Erinnerung an die alte Vertrautheit aber bleibt spröde.

«Damals waren wir unzertrennlich» (Orig.: «Le vieil incendie», 2023) spielt im ländlichen Périgord mit seinen Wäldern und Höhlen. Elisa Shua Dusapin lässt damit Korea und seine Landschaft hinter sich, welche ihre zwei ersten Romane «Winter in Sokcho» (2018) und «Die Pachinko-Kugeln» (2022) atmosphärisch geprägt haben.

Treu geblieben ist die Autorin dem künstlerischen Geschick einer subtilen, beiläufigen Genauigkeit, mit der sie ihre Figuren ins Licht rückt und den Landschaften Stimmigkeit verleiht. Erzählerisch behutsam lenkt sie die Geschichte der beiden Schwestern auf den Angelpunkt ihrer Beziehung hin. Als ältere war Agathe stets bemüht, die stumme Véra gegen Hänseleien etwa in der Schule zu beschützen. Dabei war diese keineswegs nur ein stilles Kind. Véra konnte auch widerborstig sein.

Subtile Genauigkeit und behutsame Erzählkunst

Nach und nach lässt Dusapins Roman durchschimmern, weswegen die Schwestern einander fremd geworden sind. Das Schutzbedürfnis, das Véra stumm hinnahm, überforderte Agathe zunehmend und verunsicherte sie. «Ich konnte mich nie ganz von dem Verdacht befreien, Véra würde mir bewusst den Zugang zu ihrem Inneren verwehren.» So wendete sich die innige Zuneigung für die Erzählerin in eine unausgesprochene Abneigung, ja mehr noch, «ich hasste dieses Haus, hasste meine Schwester».

Ein schöner Kunstgriff gelingt Dusapin mit dem Hinweis auf Georges Perec (1936-1982), an dessen Drehbuch Agathe schreibt. Der französische Autor stellt in seinem «W»-Roman Fragen nach der Konstruktion von Erinnerung, wenn sie voller Lücken und Bruchstellen ist und im Bewusstsein der Erinnernden um Leerstellen kreist, die unauflösbar, stumm bleiben.

Die gemeinsame Hausräumung bringt die emotionale Nähe früherer Jahre nicht zurück. Erst recht, als Agathe jäh aufgeht, dass Véra überhaupt keine Erinnerung mehr an ein inniges Spiel hat, das sie früher in einer Höhle spielten. Zum Abschied sind sie sich einig, dass sie, wären sie nicht Schwestern, sich kaum näher kennen würden. So bewahrt ihr kurzes Wiedersehen etwas schwebend Unerlöstes, eine zartbittere Note.*

*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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