In der Schweiz sind viele Senioren einsam. Einige wollen die Gelegenheit beim Arzt nutzen, um ein wenig zu plaudern. Aber Achtung: Das kann ins Geld gehen.
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Einige Ärztinnen und Ärzte stellen «Plaudern» als «seelische Unterstützung» in Rechnung. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Einige Senioren bringen Hausärzte mit Gesprächen in Verzug – teils aus Einsamkeit.
  • Das kann als seelische Unterstützung verrechnet werden. Pro fünf Minuten!
  • Ein Arzt handhabt dies so, eine Ärztin übt Kritik.
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Margrit Keller* (84) staunt nicht schlecht, als sie die Abrechnung ihres Hausarztes sieht: Neben den üblichen Kostenpunkten für die Behandlung hat er diesmal auch seelische Unterstützung verrechnet.

Dabei wollte die verwitwete Seniorin, die alleine lebt, nur ein wenig plaudern. Auch ihr Sohn Hans-Peter Keller* ist irritiert, wie er zu Nau.ch sagt: «Meiner Mutter war nicht bewusst, dass es kostet, über Privates zu reden. Ich finde die Rechnung dreist.»

Patientinnen und Patienten sollten zumindest vorgewarnt werden, findet er. «Ich denke, viele ältere Menschen sind einsam und deponieren ihre Sorgen beim Arzttermin. Der Arzt sollte sie bremsen und an eine Fachstelle verweisen.»

Mit dieser These dürfte Keller recht haben: Laut Bundesamt für Statistik (Stand 2019) fühlen sich 18 Prozent der Ü65-Jährigen oft oder manchmal einsam.

«‹Plaudern› ist seelische Unterstützung»

Das merkt auch ein Deutschschweizer Hausarzt im Berufsalltag, der anonym bleiben möchte: «Viele ältere Patientinnen und Patienten möchten vor allem über Privates sprechen», sagt er zu Nau.ch. Das habe auch mit Einsamkeit zu tun.

Es kommt gar vor, dass er wegen gesprächiger Kundschaft in Verzug gerät und es deshalb Wartezeiten gibt. Dabei ist die Zeit in den Hausarztpraxen ein teures Gut: Seit Jahren fehlt es in der Branche an Fachkräften, viele sind stark ausgelastet.

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Viele Seniorinnen und Senioren möchten während ihres Arzttermins auch über Privates sprechen. (Symbolbild)
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Das bringt die Hausärztinnen und -ärzte teilweise auch in Verzug. (Symbolbild)
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Für einige ist klar: «Plaudern» während der Sprechstunde ist «seelische Unterstützung» und wird verrechnet. (Symbolbild)
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Andere kritisieren die Praxis und betonen, dass man Gespräche nur verrechnen darf, wenn man Personen mit definiertem Leiden damit therapiert. (Archivbild)
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Der Sohn einer Betroffenen nennt die Rechnung «dreist» und findet, Ärztinnen und Ärzte sollten zumindest auf die Kosten hinweisen. (Symbolbild)

Kein Wunder, wird es von einigen in Rechnung gestellt, wenn ein Patient oder eine Patientin viel Redezeit beansprucht. Der Hausarzt zum Beispiel tut dies, wie er sagt: «‹Plaudern› ist seelische Unterstützung, verrechnet wird alle fünf Minuten nach der Tarif-Leistungsstruktur Tarmed.»

Für ihn ist klar: Ein «Plaudern» gibt es während der Sprechstunde gar nicht. Das seien Gespräche, die dazu dienen, eine Diagnose zu stellen.

Ärztin kritisiert «Plauder»-Rechnung

Anders handhabt das die Hausärztin Cornelia Meier aus Zuchwil SO. «Es kommt mir nicht in den Sinn, ein ‹Plaudern› als Konsultation abzurechnen», sagt sie gegenüber Nau.ch.

Denn: Um ein Gespräch hausärztlich abrechnen zu können, muss es sich laut Meier um eine psychotherapeutische oder psychosoziale Beratung handeln. «Dazu muss ein Leiden bestehen, das man mit Gesprächstherapie behandeln kann. Also zum Beispiel eine chronische psychische Erkrankung.»

Auch sie stellt jedoch fest, dass nicht alle nur Sachliches mit ihr besprechen möchten. «Sicher sind wir für einige Patientinnen und Patienten ein gern gefragter Ort zum Deponieren von x Anliegen.»

Spürt sie, dass eine Person aus möglicher Einsamkeit einen grossen Redebedarf hat, spreche sie das an. «Dann weise ich auf Angebote wie beispielsweise Freiwilligen- und Besuchsdienste hin.»

Angestellte übernehmen Patienten-Plaudern für Ärztin

Denn auch Meier hat wenig Zeit für Gespräche. «Der Tag ist durchgetaktet.» Plaudern liege da nicht drin – «zum Glück» kann sie aber auf Unterstützung aus ihrem Team zählen.

«Auch meine Angestellten arbeiten den ganzen Tag unter Hochdruck. Aber sie nehmen sich durchaus Zeit, wenn sie merken, dass ihr Gegenüber etwas mehr Aufmerksamkeit braucht.»

Finden Sie es okay, wenn der Arzt Patienten «Plaudern» in Rechnung stellt?

Die Seniorenorganisation Pro Senectute kennt die Hausarzt-Leistung der psychosozialen Beratung. Kritisieren will Sprecher Peter Burri Follath sie aber nicht, denn: «Wenn eine ältere Person nur aus Einsamkeit plaudern möchte, kann dies üblicherweise nicht abgerechnet werden.»

Klar ist für ihn aber: Ältere Personen sollten nicht einfach weggeschickt werden, wenn ihre Sprechstunde um ist. Hier brauche es Fingerspitzengefühl.

*Name von der Redaktion geändert

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