«Das Münster ohne Gerüst wäre ein schlechtes Zeichen»

Peter Widmer
Peter Widmer

Bern,

Die Architektin Annette Loeffel ist seit 2019 als Münsterbaumeisterin für die baulichen Belange des Berner Münsters verantwortlich. Eine wahre Daueraufgabe.

Berner Münster Annette Loeffel
Annette Loeffel ist seit 2019 Münsterbaumeisterin im Auftrag der Berner Münsterstiftung. - Daniel Zaugg

Seit 2019 ist die Architektin Annette Loeffel als Münsterbaumeisterin für die baulichen Belange des Münsters verantwortlich. Die Restaurierung des 604-jährigen Berner Wahrzeichens ist eine Daueraufgabe.

Mit der Methode des «Flickens» statt Austausch hat Bern europaweit eine Vorreiterrolle eingenommen.

BärnerBär: Annette Loeffel, welchen Stand der Restaurierungen hat das Münster heute, Mitte Oktober 2025?

Annette Loeffel: Den Nachholbedarf der letzten 25 Jahre haben wir sehr gut aufgeholt, namentlich am Turm und an den grossen Gewölben, Chor und Mittelschiff.

Zurzeit restaurieren wir das rechte Eingangsportal. Eine erste Runde der Restaurierungen ist bald beendet. Nun beginnt bereits die Nachpflege der Restaurierungen, die wir vor 25 Jahren realisiert haben.

BärnerBär: Sie haben Ihre Diplomarbeit unter anderem zur Münster-Bauhütte verfasst. Was fasziniert Sie derart am Berner Münster?

Loeffel: Einerseits fasziniert mich, dass sich immer wieder Menschen über eine Zeitdauer von mehr als 600 Jahren für das Münster engagiert haben. Sie begannen mit dem Bau, ohne zu wissen, wie es einmal aussehen wird!

Andererseits begeistert mich das seit jeher damit verbundene Netzwerk. Ich denke dabei besonders an die Europäische Vereinigung der Dombaumeister, Münsterbaumeister und Hüttenmeister, die ich präsidieren darf.

Wir durften soeben in London die 50. Sitzung feiern – ein spannender Austausch mit 13 europäischen Ländern.

Hast du das Berner Münster schon einmal von innen gesehen?

BärnerBär: Woher stammte der Sandstein bei der Grundsteinlegung des Münsters im Jahre 1421?

Loeffel: Unser Betriebsleiter der Münsterbauhütte, Peter Völkle, ist der Sache einmal auf den Grund gegangen und hat herausgefunden, dass es bereits im Mittelalter am Berner Hausberg Gurten Steinbrüche gab.

Der zweite wichtige Steinbruch befand sich am Hättenberg in Ostermundigen.

BärnerBär: Wie beurteilen Sie dessen Qualität heute?

Loeffel: Für das Fundament verwendete man damals Tuff, vermutlich aus dem Gürbetal. Diese Qualität kann ich allerdings nicht beurteilen. Beim Sandstein wurde schon damals darauf geachtet, welcher Stein wo verbaut werden muss.

Berner Münster Innenbereich Decke
Es wäre interessant, den Zustand eines Betonbaus in 600 Jahren zu sehen, so Annette Loeffel, mit Blick auf den Sandstein, Baumaterial des Berner Münsters. - Daniel Zaugg

Bei exponierten Stellen verwendete man besseren Stein, bei Bildhauerarbeiten einen dauerhaften, feinkörnigen Stein.

Fazit: Ich beurteile den damals verbauten Sandstein als gut. Sandstein ist nämlich besser als sein Ruf; es wäre interessant, den Zustand eines Betonbaus in 600 Jahren zu sehen.

BärnerBär: Wo beziehen Sie heute den Sandstein für das Berner Münster?

Loeffel: Wenn wir heute ausnahmsweise noch Steine austauschen müssen, beziehen wir sie von verschiedenen Orten, wobei wir möglichst dieselbe Qualität des zu ersetzenden Steins berücksichtigen.

Wir haben drei verschiedene Steinsorten im Berner Münster verbaut: den Berner Sandstein, den Zuger Sandstein, den man vor allem im 19. und 20. Jahrhundert verbaute, und den Obernkirchener Hartsandstein aus Norddeutschland.

Die Steinbrüche in Zug und Oberägeri existieren jedoch heute nicht mehr. Eine ähnliche Qualität liefert uns nun ein Steinbruch vom Zürcher Obersee, der Bollinger Sandstein.

BernerBär: Was denken Sie, würde man heute das Münster auch wieder mit Sandstein bauen?

Loeffel: Aus meiner Sicht: ja! Die 1945 zerstörte Frauenkirche in Dresden baute man beispielsweise mit dem ursprünglichen Material wieder auf. Auch bei der Kathedrale Notre Dame in Paris arbeitete man nach dem Brand wieder mit historischen Materialien.

Münster Bern
Blick auf das Münster in Bern. - keystone

BärnerBär: Sie ersetzen seit den 1980er-Jahren nicht mehr ganze Steine, sondern «flicken» sie mit mineralischem Mörtel. Ist das nicht aufwändiger?

Loeffel: Nein, im Gegenteil. Wenn ich auf die letzten 25 Jahre zurückblicke, waren wir mittels Methode der Restaurierung und traditioneller Handwerksarbeit zehnmal schneller unterwegs als mit dem Austausch von Steinen, besonders bei komplexeren Bildhauerarbeiten.

Andernfalls müsste man die Steine sichern, einen Abguss fertigen, punktieren, neu bearbeiten, wieder einfügen – das wären mehrere einzelne, aufwändige Arbeitsgänge.

Einerseits waren es finanzielle Überlegungen, die zu dieser Methode führten, andererseits ginge beim blossen Austausch die historische Substanz verloren und wir hätten in 50 Jahren ein «Disneyworld-Münster»! Bei einer Blase am Fuss amputiert man auch nicht gleich den ganzen Fuss.

BärnerBär: Welche Einflüsse setzen heute dem Sandstein am meisten zu?

Loeffel: Das Wasser, und zwar überall, wo dieses eindringen kann. Im Weiteren Vandalismus und Schadstoffe auf dem Sandstein aus der Zeit des sauren Regens.

Auch der Klimawandel setzt dem Münster zu: mehr Wind, grössere Regenmengen, die im schlimmsten Fall ins Gewölbe dringen.

Annette Loeffel Dom Info-Tafel
Mit der Methode des «Flickens» statt Austausch hat Bern europaweit eine Vorreiterrolle in der Dom-Restauration eingenommen. - Daniel Zaugg

BärnerBär: Ist die Restaurierung der Steine anstelle von Austausch in europäischen Kathedralen und Domen auch Lege artis?

Persönlich

Annette Loeffel wuchs im Berner Seeland auf. Das Studium als Architektin ETH schloss sie 2000 in Lausanne u. a. mit einer Diplomarbeit über die Münster-Bauhütte ab.

Schon während des Studiums und danach arbeitete sie bei Häberli Architekten AG in Bern; Hermann Häberli war von 1998 bis 2018 Münsterbaumeister. Annette Loeffel wurde Teilhaberin und vorerst stellvertretende Münsterbaumeisterin.

Seit 2019 ist sie Münsterbaumeisterin im Auftrag der Berner Münsterstiftung. Ebenfalls seit 2019 ist sie geschäftsführende Inhaberin von Häberli Architekten AG und seit 2022 präsidiert sie die Europäische Vereinigung der Dombaumeister, Münsterbaumeister und Hüttenmeister.

Annette Loeffel ist ledig und wohnt im Gürbetal. In ihrer Freizeit wandert und segelt sie.

Loeffel: Viele sprechen zwar von Restaurierung, verstehen aber darunter nicht dasselbe! Bei der jüngeren Generation von Dombaumeistern setzt sich aber mehr und mehr die «Berner Methode» durch.

Ich denke dabei an den Kölner Dom, wo der mittelalterliche Chor zurzeit restauriert und nicht ersetzt wird. Dort werden nur noch wenige Prozent ausgetauscht.

Die Domverantwortlichen kamen zu uns nach Bern, um sich unsere Methode der Restaurierung aneignen zu können. Früher wurden wir oft belächelt, aber das ist heute Geschichte!

BärnerBär: Was entpuppte sich seit Ihrem Beginn als Münsterbaumeisterin als kniffligste Aufgabe?

Loeffel: Knifflig war, dass wir das Mittelschiff innerhalb von drei Jahren fertigstellen konnten, das Ergebnis darf sich sehen lassen und das erfüllt uns mit Stolz.

Als echte Herausforderung entpuppt sich die derzeitige Restaurierung des rechten Eingangsportals. Dieses wurde im Laufe der Jahrzehnte schon mehrmals behandelt, und wir kennen die Materialien noch nicht alle.

Wenn wir zu reinigen beginnen, löst sich die Putzschicht, eine Reinigung ist fast nicht möglich. Wir setzten versuchsweise verschiedene Reinigungstechniken ein, bisher leider erfolglos. Bei den anderen, bereits restaurierten Portalen hatten wir diese Schwierigkeiten weniger.

BärnerBär: Zum Schluss die Frage, die Ihnen wohl immer wieder gestellt wird: Sieht man das Münster einmal ohne Gerüst?

Loeffel: Ich hoffe nicht! Das Münster ohne Gerüst wäre ein schlechtes Zeichen, denn das würde bedeuten, dass der Bau nicht mehr unterhalten würde.

Es gibt Stellen am Münster, wo hundert Jahre kein Gerüst stand und nichts behandelt wurde. An welchem anderen Haus wird hundert Jahre nichts gemacht?

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