Berner staunt: Dieb räumt Handtasche aus – Polizei zu beschäftigt
Handtaschendiebstahl mitten in Bern: Statt einzugreifen, verweisen Polizisten den Zeugen an den Notruf.

Das Wichtigste in Kürze
- Julian F.* wird Zeuge eines Handtaschendiebstahls und informiert die Polizisten vor Ort.
- Anstatt einzugreifen, verweisen sie ihn an die Notrufzentrale.
- Ein Experte ist überzeugt: Bei einem Gewaltdelikt hätte die Polizei sofort eingegriffen.
Während Staatsbesuchen hat nicht nur die Diplomatie Hochbetrieb – auch Diebe wittern ihre Chance. Das zeigt ein Vorfall, der sich Ende August in der Berner Altstadt ereignet hat.
Ein Donnerstagmorgen, Ende August in der Laube der Berner Herrengasse. Ein mutmasslich obdachloser Mann beugt sich über eine fremde Handtasche und beginnt, sie zu durchsuchen. Nur wenige Meter entfernt: der Casinoplatz, voll mit uniformierten Polizisten – offenbar wegen eines hochrangigen Staatsbesuchs.
Nau.ch-Leser Julian F.* beobachtet die Szene und zeigt Zivilcourage: Er geht zu den Polizisten und meldet den Vorfall. Die Reaktion der Beamten überrascht – und irritiert: Er solle den Vorfall selbst via Notruf 117 melden.
«Wenn immer es die Umstände ermöglichen, wird geholfen»
Auf Anfrage von Nau.ch erklärt Jessica Friedli, Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern: «Wenn unsere Mitarbeitenden von Bürgerinnen und Bürgern auf der Strasse angesprochen werden, wird diesen in der Regel, wenn immer es die Umstände ermöglichen, geholfen.» Dies sei unter anderem davon abhängig, ob die Mitarbeitenden in einen anderen Einsatz eingebunden seien.
Friedli fügt hinzu: «In einem Notfall empfehlen wir, immer direkt eine der Notrufnummern 112/117 zu wählen.»
Hat die Polizei zu wenig Ressourcen?
Dirk Baier forscht am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Für ihn ist der Ressourcenmangel bei der Polizei zweifellos ein relevantes Problem: «Gerade in grossen Städten mit viel Klein- und Drogenkriminalität hat die Polizei weniger Ressourcen, als sie für Prävention und Strafverfolgung benötigt.»
Schwere Straftaten seien davon allerdings nicht betroffen: «Die generelle Sicherheitslage ist dadurch in der Schweiz nicht gefährdet.»

Der konkrete Fall beschreibe jedoch keinen Hinweis auf einen Personalmangel, betont Baier. Denn gleichzeitig lief ja ein Staatsbesuch. «Wenn es sich um einen Grosseinsatz handelte, ist sicherlich der Schwerpunkt auf diesen gerichtet, um mögliche gefährliche Situationen zu verhindern.»
Gerade bei solchen Einsätzen sei es üblich, dass genügend Polizisten vor Ort seien. Sodass sich durchaus jemand auch um andere akute Vorkommnisse kümmern könne.
Taschendiebstahl nicht akut genug
Baier erinnert zudem daran, dass Diebstahlsdelikte – wie die meisten Gewaltdelikte – Offizialdelikte sind. Die Polizei sei verpflichtet, zu handeln, sobald sie davon erfahre: «Bei Diebstahl gilt aber, dass bei Delikten mit geringerem Schaden ein Spielraum besteht.» Die Polizei könne in solchen Fällen also die Anzeige abwarten.
Hätte es sich jedoch um ein Gewaltdelikt gehandelt – und nicht um einen Diebstahl – ist Baier überzeugt: «Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Polizei direkt tätig geworden wäre, da hier eine direkte Gefahr für Leib und Leben bestanden hätte.»
*Name der Redaktion bekannt