Livia Anne Richard: «In unserer Essenz sind wir alle gleich»
In der Serie «Erfolgreiche Frauen in Bern» spricht der BärnerBär diesmal mit Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard.

In dieser Serie «Erfolgreiche Frauen in Bern» spricht der BärnerBär mit bekannten Berner Frauen und will herausfinden, welche Menschen sich hinter den prominenten Namen verbergen, was ihnen wichtig ist, wer sie prägte und wie sie zu dem wurden, was sie heute sind.
Livia Anne Richard wählt als Gesprächsort ihr Zuhause und wir setzen uns an den Gartentisch mit Blick auf ihren Lieblingsplatz, eine Hollywood-Schaukel.
Dorthin zieht sie sich oft mit ihrem PC zurück. Zwar ist die Schaukel kein Mitbringsel aus Amerika, dennoch spielten die USA in ihren jungen Jahren eine grosse Rolle – aber davon später. Zunächst einmal:
BärnerBär: Livia Anne Richard, beschreiben Sie sich doch bitte ganz kurz selbst.
Livia Anne Richard: Ich versuche, mich immer wieder neu zu erfinden, aus der Präsenz heraus zu agieren, aus dem konditionierten Denken auszubrechen und die Perspektive mehrmals am Tag zu wechseln. Öppe so.
BärnerBär: Fangen wir ganz vorne an – wie sind Sie aufgewachsen?
Richard: Ich bin zuerst im Weissenbühl, später dann in Kehrsatz gross geworden. Im Spannungsfeld zwischen einem Vater, der überzeugter Atheist ist und einer gläubigen Mutter. Sie waren wie Tag und Nacht und dennoch eine liebende Einheit.
BärnerBär: Das stelle ich mir nicht ganz einfach vor – was machte das mit Ihnen?
Richard: Ich lernte früh, dass es zu jedem Thema völlig unterschiedliche Sichtweisen geben darf und es darum geht, den anderen in seinem Denken zu akzeptieren.

Auch lernte ich dadurch, mir meine eigene Meinung zu bilden. Die Gegensätzlichkeit meiner Eltern lehrte mich, meine eigene «Wahrheit» zu suchen.
BärnerBär: Wie war Livia Anne als Kind?
Richard: Alles andere als eine kleine Prinzessin mit Tüllröckli (lacht). Ich habe auch kaum je mit Puppen gespielt, sondern war ständig draussen.
Weil es in der Nachbarschaft fast nur Buben hatte, spielten wir Fussball und «Cowboyerle und Indiänerle». Das soll man heute nicht mehr sagen, damals nannten wir das Spiel halt so.
Für meine Mutter war ich als Tochter eine ziemliche Fehlbesetzung – um in der Sprache des Theaters zu bleiben. Sie hätte mir gerne Kochen, Backen und Nähen beigebracht, ich aber kletterte lieber auf Bäume.
Vielleicht ist es mir heute auch deshalb so wichtig, den Menschen in meinen Stücken die Rollen zuzuteilen, die ihnen Entwicklungsmöglichkeiten bieten.
BärnerBär: Und damit sind wir schon mitten in Ihrem heutigen Schaffen. Wie kamen Sie überhaupt zum Theater?
Richard: Mit 15, als es um die Berufswahl ging, hätte ich gerne eine Schauspielschule besucht, aber meine Eltern wollten, dass ich zuerst etwas «Richtiges» lerne.
Deshalb begann ich eine KV-Lehre. Zu meinem Glück gab es dort eine wirklich gute Theatertruppe – der bin ich beigetreten. Und noch während dieser Zeit ging ich als Austauschstudentin für ein Jahr in die USA.
Das wurde mir nur deshalb erlaubt, weil ich versprach, nach meiner Rückkehr die Lehre zu beenden. In Kalifornien lernte ich Englisch – da ich mich im KV für Italienisch entschieden hatte – und schrieb mich an der Highschool im Fach «Public Speaking» ein.
BärnerBär: Erzählen Sie mehr davon!
Richard: Im Rahmen dieses Fachs verfasste ich mein erstes kleines Drama mit dem Titel «Why people are lonely» und spielte darin drei unterschiedliche Rollen.
Offenbar ziemlich überzeugend, denn die dortige Teacherin nahm mich fortan unter ihre Fittiche und förderte mich.

In Kalifornien gab es damals sogenannte «Public Speaking»-Turniere und zu solchen begleitete sie mich während dieses Jahres. Hier hörte ich auch zum ersten Mal, dass ich in etwas «Talent» hätte.
BärnerBär: Wie ging es dann weiter?
Richard: Zurück in der Schweiz schloss ich das KV ab und arbeitete danach in vielen unterschiedlichen Branchen. Daneben spielte ich ständig in verschiedenen Theaterstücken.
1995 hängte ich sämtliche Sicherheit an den Nagel und machte nur noch Theater. 1997 gründete ich zusammen mit Pesche Leu die Freilichtspiele Moosegg und durfte an der Seite von Franz Matter Regieassistenz machen.
Von ihm habe ich unglaublich viel gelernt, er war eine grosse Inspirationsquelle für mich.
BärnerBär: Könnte man dies als Ihr Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur Regisseurin bezeichnen?
Richard: Ja, durchaus. So richtig gepackt hat es mich dann aber eigentlich im Jahr 1999, als ich aufgrund von Franz Matters schwerer Erkrankung bei einem grossen Projekt einspringen und die Regie quasi notfallmässig übernehmen musste.
Da merkte ich schnell: Regieführen liegt mir noch viel mehr als das Schauspiel. Ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser und hatte genau mein Ding gefunden.
Zu jener Zeit hatte ich auch einen Traum: ich sah mich ein Theaterstück auf dem Gurten inszenieren. Und 2002 ging dieser Traum dann tatsächlich in Erfüllung.
BärnerBär: Welche Stolpersteine gab es auf Ihrem Weg?
Richard: Ich war ja eine Quereinsteigerin. Als ich mich mit 26 und der Vision, Theaterregisseurin und Autorin zu werden, selbstständig machte, bekam ich weder irgendwelche finanzielle noch ideelle Unterstützung.
Im Gegenteil: Alle fanden es die dümmste Idee aller Zeiten. Ich aber wusste: Das ist es, was ich machen will, und das ist es, was ich tun werde.
Da ich aber keine diesbezüglichen eidgenössischen Diplome vorweisen konnte, musste ich mich einzig durch Leistung beweisen. Dazu kam, dass es damals eigentlich nur männliche Regisseure gab.
BärnerBär: Wie gingen Sie damit um?
Richard: Hier half mir sicher meine Kindheit. Ich wusste mich in einem männlichen Umfeld zurechtzufinden. Ausserdem hatte ich gar keine Zeit, mich mit den allfälligen Nachteilen meines Frau-Seins zu befassen.
Ich habe nicht über potenzielle Schwierigkeiten nachgedacht, sondern bin einfach meinen Weg gegangen. Bei Problemen habe ich den Dialog gesucht, oder halt auch mal die Fäuste ausgepackt (lacht).
Aber ich begab mich nie in die Opferrolle. Mit diesem Hintergrund habe ich Frauen privat oftmals beraten und habe nun zusätzlich eine Ausbildung gemacht.
Ich biete ein spezifisches Coaching für Frauen an, die sich endlich und definitiv von ihren überholten Denkmustern befreien wollen.
BärnerBär: Warum nur für Frauen?
Richard: Beruflich, wie oft auch privat, sehen viele Frauen ihr Frau-Sein unbewusst noch immer als einen unausweichlichen Grund, wenig Anspruch auf Erfolg und Anerkennung zu haben.
Tief in ihnen wohnt dieser grundsätzliche Zweifel bezüglich der eigenen Wertigkeit und der eigenen Fähigkeiten. Das führt dazu, dass Frauen sich weniger zutrauen.
Ziel meines Coachings ist es, dass sie ihr «Frau-Sein» auch unbewusst nicht mehr zu einem hinderlichen Thema machen. Das tun meines Wissens nur Frauen, jedenfalls kenne ich keinen Mann, der sich fragt «kann ich das, als Mann?»
BärnerBär: Warum ist das heute immer noch so?
Richard: Was wir «Frau» oder «Mann» nennen, ist im Mensch-Sein das Gleiche. Alle Menschen sehnen sich nach Liebe, Anerkennung und einer sinnvollen Tätigkeit.
Doch über die Jahrtausende wurden Rollenbilder verteilt und wie wir wissen, eher zum Nachteil der Frauen.
Viele leben noch heute unbewusst danach: Alte Prägungen blockieren ihr Selbstbild und hindern sie daran, ihr Potenzial voll zu entfalten. Aber Frauen können lernen, aus diesen zugewiesenen Rollen auszubrechen. Sie abzustreifen wie ein zu eng gewordenes Kleid.
BärnerBär: Das Stichwort «Rollen» führt uns wieder zurück zum Theater, wie führen Sie?
Richard: In meinen Stücken arbeite ich mit Profis und Amateuren. Mein Ziel ist es, am Ende eine homogene Ensemble-Leistung zu erreichen.
Gute «Führung» bedeutet also für mich, dass ich das Beste aus jedem einzelnen herauszuholen versuche. Dafür muss man seine Darstellenden gut kennen, für jeden gibt es eine Art «eigene Sprache» des Regieführens.

Für mich gibt es keine wichtigen oder unwichtigen Rollen. Am Ende ist ein Theater wie eine Kette aus unterschiedlichen Perlen – grössere, kleinere, unterschiedlich schimmernde.
Alle Perlen halten die Kette zusammen. Fällt eine raus, und sei es die kleinste, fällt die ganze Kette auseinander.
BärnerBär: Was mögen Sie gar nicht?
Richard: Manipulierende und herablassende Menschen. Ich messe eine Person daran, ob sie alle mit dem gleichen Respekt behandelt.
Ob sie mit ihrer Reinigungskraft gleich freundlich wie mit ihrer Chefin spricht. Wenn es Konflikte gibt, sollen die unmittelbar ausgetragen werden, für die «Faust im Sack» ist im Theater keine Zeit.
Der Umgang soll wertschätzend sein. So findet man als Team zusammen und dann wird das Ensemble mehr als nur die Summe seiner Mitglieder, nämlich ein fulminantes Ganzes, das mit seinem Zusammenhalt das «feu sacré» auf das Publikum überträgt.
BärnerBär: Was fasziniert Sie am Theater?
Richard: Theater ist ein flüchtiges Medium. Es ist ehrlich, unverfälscht, unmittelbar; jede Vorstellung ist einzigartig. Das fasziniert mich. Man hat immer nur diesen einen Moment, dann ist er vorbei für immer. Wie im richtigen Leben.
BärnerBär: Im Moment ist die aktuelle Weltlage ja nicht gerade angenehm. Wie gehen Sie damit um?
Richard: Wenn mir alles zu viel wird, die schrecklichen Bilder aus Gaza zum Beispiel unerträglich sind, dann wechsle ich die Perspektive und versuche bewusst, die Welt und ihre irdischen Probleme für einen Moment zu verlassen, sie von «weit oben» aus dem Universum zu betrachten und Distanz zu allem zu bekommen.
Ich glaube, das Universum zeigt sich ziemlich unbeeindruckt von dem, was wir hier «unten» auf der Erde so tun. Aus grosser Entfernung betrachtet sind wir Menschen recht unbedeutend und das Leid, das wir einander zufügen, wohl leider unausweichlicher Bestandteil unserer noch nicht gerade rühmlich hohen Evolutionsstufe.
BärnerBär: Aber die Weltlage hat ja sicher dennoch Einfluss auf Ihre Stücke?
Richard: Definitiv. Das Stück, das 2020 für den Gurten geplant gewesen wäre: «Alter! Experiment Generationenhaus», musste ja coronabedingt abgesagt werden.
Nun habe ich dieses fürs 2026 wieder aufgenommen, aber komplett überarbeitet und praktisch neu geschrieben.
Es trägt nun den Titel «So viu Läbe». Diese Überarbeitung erfolgte vor allem deshalb, weil die Welt in diesen sechs Jahren eine komplett andere geworden ist.
BärnerBär: Was ist Ihnen wichtig?
Richard: Das Hier und Jetzt. Wer sich immer fragt, «was kommt als Nächstes?», der verpasst sein Leben. Wichtig ist mir auch, mich nicht allzu sehr mit meinem Denken zu identifizieren.
Unser Gehirn will immer zu tun haben, rattert pausenlos vor sich hin. Von diesem Denken löse ich mich oft bewusst, versuche, es nur zu «beobachten». Ein spannender Vorgang, weil sich so die gesamte Wahrnehmung schärft.
BärnerBär: Welches ist Ihr Lebensmotto?
Richard: Mir und meinen Werten in jeder Hinsicht treu zu sein, künstlerisch wie privat.
BärnerBär: Welche Superkraft hätten Sie gerne?
Richard: Der Menschheit die Fähigkeit einhauchen zu können, dass sie im DU das ICH erkennt. Der andere ist in seiner Essenz das gleiche wie ich. Sternenstaub. Das Erbgut zu 99 Prozent identisch. Wenn wir Menschen lernen würden, über Hautfarbe und Religion hinwegzufühlen, lernen würden, uns von Seele zu Seele zu begegnen, dann hätten wir auf dieser kleinen blauen Kugel das Paradies auf Erden. Das klingt kitschig und ist idealistisch und ja, davon träume ich.