Jugend-Obdachlosigkeit ist in Bern ein unterschätztes Problem
Pluto bietet jungen Erwachsenen in Not gratis Schlafplätze. Aline Weibel und Sebastian Mühlemann vom Pluto-Team sprechen im Interview über ihre Arbeit.

Pluto bietet jungen Erwachsenen in Not gratis einen Schlafplatz an. Die Institution wird von Stadt und Kanton finanziell unterstützt – dennoch kämpfen die Betreibenden um mehr Aufmerksamkeit.
BärnerBär: Sebastian Mühlemann, wer genau sucht Sie eigentlich auf?
Sebastian Mühlemann: Die Menschen sind so divers wie der Grund, wieso sie zu uns kommen. Meistens haben sie Gewalt oder Konflikte in ihrem Herkunftssystem erlebt. Also zum Beispiel zu Hause.
BärnerBär: Aline Weibel, was passiert, nachdem diese Personen bei Ihnen an der Tür geläutet haben?
Aline Weibel: Zunächst findet ein Eintrittsgespräch statt, bei dem grundlegende Dinge abgefragt werden. Wir erklären die wichtigsten Informationen zu Pluto und zeigen unser Haus.
Es soll immer auch die Möglichkeit geben, unser Angebot abzulehnen oder zu gehen. Wir bieten eine Grundversorgung an: Ein Dach über dem Kopf, einen Schlafplatz, eine warme Mahlzeit – abends kocht stets jemand von unserem Team.
Wir stellen zudem frische Kleider und eine Dusche zur Verfügung. Je nachdem muss bei einer Gefahrensituation rasch gehandelt werden. Dann nehmen wir jeweils sehr schnell Kontakt mit Fachstellen auf, etwa mit Frauenhäusern oder Opferberatungsstellen.
BärnerBär: Verfügt Pluto stets über genug Platz für jede Anfrage?
Mühlemann: Einmal drückten wir einer Person notgedrungen einen Schlafsack in die Hand, das war aber eine Ausnahme. Ab und zu müssen wir Leute abweisen. Eine sehr schwierige Situation für die Schutzsuchenden und für uns.
Eine alternative Lösung für Volljährige zu finden, ist deutlich einfacher, da sie an andere Notschlafstellen verwiesen werden können. Sind diese ebenfalls belegt, fragen wir in anderen Städten nach.
BärnerBär: Und bei den Minderjährigen?
Mühlemann: Da ist es schwieriger, weil es eine vergleichbare Institution nur noch in Zürich gibt. Deswegen werden bei uns Minderjährige priorisiert.
BärnerBär: Wie lange bleiben die Nutzenden bei euch?
Weibel: Durchschnittlich sind es acht Nächte. Die Maximaldauer beträgt drei Monate – das ist etwa der Fall, wenn eine Person ihre Wohnung verloren hat und eine neue Bleibe sucht. Häufig finden die Leute allerdings früher eine Anschlusslösung, was wir sowieso anstreben.
Um die bevorstehende Nutzung von Pluto abends besser einschätzen zu können, fragen wir bei den Personen teils nach, ob sie am Abend wieder zu uns kommen.
Einige teilen uns von Anfang an mit, dass sie gleich zwei Wochen bleiben wollen, wieder andere suchen uns punktuell alle zwei oder drei Monate für ein paar Nächte auf.
BärnerBär: Tagsüber ist Pluto geschlossen. Was machen die Jugendlichen ab neun Uhr morgens?
Weibel: Unter der Woche bieten wir Sozialberatung an, wir helfen zum Beispiel bei der Jobsuche. Und wir vermitteln Adressen, wo sie sich am Tag aufhalten können, etwa eine Bibliothek. Hier existieren jedoch eindeutig zu wenig niederschwellige Angebote.
BärnerBär: Was löst diese Arbeit bei Ihnen emotional aus?
Weibel: Pluto ist ein Ort, wo ganz viele Thematiken und Problematiken, die in der Gesellschaft oft unter dem Radar laufen, zusammentreffen. Eine Person hat vielleicht einen Klinikaufenthalt hinter sich, hatte schon davor keinen sicheren Schlafplatz und landet dann bei uns.
Pluto ist damit eine Art Realitätscheck und zeigt auf, wo die Lücken im System sind. Mir hilft der regelmässige Austausch innerhalb des Teams. Im Nachtdienst arbeiten wir immer im Tandem, das bedeutet, wir beginnen zusammen und hören gemeinsam auf.
Einmal pro Woche trifft sich das achtköpfige Team an der internen Sitzung. Da können schwierige Situationen angesprochen werden. Manchmal bedeutet dies auch zu akzeptieren, dass wir nicht das gesamte System ändern können.
BärnerBär: Bleiben Kontakte bestehen, selbst wenn diese Menschen nicht mehr bei Pluto sind?
Mühlemann: Das passiert, ja. Hin und wieder schreibt jemand einen Brief oder schaut auf ein Znacht vorbei.
BärnerBär: Entlassen Sie diese Menschen stets wieder mit einem guten Gewissen?
Weibel: Sie sind uns keine Rechenschaft schuldig. Wenn eine Person erzählt, sie habe zu Hause Gewalt erlebt, eine Nacht bei uns verbringt und wir sie dann nie mehr sehen, muss man das aushalten. So funktioniert unser niederschwelliges Angebot.
BärnerBär: Sind Konflikte ein Thema?
Mühlemann: Ja, wenn der Stressfaktor erhöht ist zum Beispiel. Wir reagieren dann mit deeskalierendem Verhalten, was meist sehr gut klappt.
BärnerBär: Welche Massnahmen wären nötig, um genügend Plätze für betroffene Jugendliche zu schaffen?
Weibel: Derzeit sind wir auf der Suche nach einer neuen Liegenschaft. Ziel wäre es, allen ein Einzelzimmer anzubieten. Leider sind alle Häuser, die infrage kommen, zu teuer.
Die grösste Herausforderung ist also, breites Interesse für die Unterstützung solcher Angebote zu schaffen.
Persönlich
Aline Weibel und Sebastian Mühlemann sind Teil des achtköpfigen Pluto-Teams, vier davon haben eine Ausbildung als Fachperson soziale Arbeit.
Pluto verfügt über ein Dreier-, ein Zweier- und zwei Einzelzimmer, zusätzlich werden bei Bedarf zwei Notbetten aufgestellt. Pluto wurde 2022 eröffnet und besitzt seit dem Sommer einen Leistungsvertrag mit dem kantonalen Jugendamt.
BärnerBär: Schaut die Politik zu oft weg?
Mühlemann: Seit Sommer werden wir zu 80 Prozent finanziell von Kanton und Stadt unterstützt. Das ist das Resultat eines dreijährigen Pilotprojekts, bei dem klar wurde, dass Unterstützung allein durch Spenden längst nicht ausreicht.
Gleichwohl bräuchte es massiv mehr Mittel, um auf die Thematik aufmerksam zu machen. Die Eröffnung eines Berner Mädchenhauses verläuft ebenfalls nur sehr schleppend.
BärnerBär: Bald ist Heiligabend. Nur so wenig Weihnachtsdeko?
Weibel: Das ist bewusst so gehalten. Manche hier feiern keine Weihnachten und wir möchten niemandem etwas aufzwängen. Was sich etabliert hat, ist, dass wir etwas Spezielles kochen, wie zum Beispiel ein Raclette oder eine Lasagne.
BärnerBär: Ist Jugendobdachlosigkeit ein unterschätztes Problem?
Weibel: Definitiv. Wir sollten uns vom Bild lösen, dass dahinter nur Armut steckt. Viel eher ist es eine generelle Vulnerabilität.
Es gibt zig Arten von Krisen, die zu solch einer Notsituation führen können, Suchterkrankungen zum Beispiel.
Mühlemann: Etliche der Betroffenen fallen in jungen Jahren komplett aus dem System raus, danach wird es schwierig, in unserer normierten Gesellschaft zu funktionieren.
BärnerBär: Was würdet ihr euch für Weihnachten wünschen?
Weibel: Ich wünsche mir eine differenziertere Sichtweise auf eine Realität von jungen Menschen, die losgelöst von festgefahrenen Stereotypen ist.
Mühlemann: Ich wünsche mir mehr niederschwellige Angebote, die präventiv auf die Betroffenen eingehen können, bevor sie überhaupt zu uns kommen. Und mehr Akzeptanz für unsere Tätigkeit wäre schön.
Info
Adventsgespräche – Der BärnerBär würdigt in drei Teilen Menschen und Einrichtungen, die oft im Stillen, aber für die Gesellschaft unverzichtbare Dienste leisten.








