Arztbesuch: Willkürlicher Altersaufschlag
Seit 2018 dürften Mediziner für Menschen über 75 Jahren Extrazeiteinheiten verrechnen. Doch entscheidend sollte nicht das Geburtsdatum, sondern der Mensch sein.

«Ich war nur schnell auf dem Gurten», antwortet unser 85-jähriger Nachbar, als wir uns beim Velounterstand treffen und ich ihn frage, wo ihn seine heutige Tour hingeführt habe.
«Aber als tattriger, langsamer Alter ist das immerhin etwas!», fügt er schmunzelnd hinzu. Als ich protestieren will, meint er nur lachend: «Das ist nicht wirklich meine Meinung, aber so steht es jeweils unter meiner Arztrechnung!»
Eigentlich erst, wenn der Arztbesuch länger als 20 Minuten dauert
Also wie? Nun, erklärt er mir, seit 2018 dürften Mediziner für Kinder unter sechs und Menschen über 75 Jahren Extrazeiteinheiten verrechnen.

Zwar eigentlich nur, wenn der Arztbesuch länger als 20 Minuten dauere. Weil eben Kleinkinder und offenbar alle Menschen, die älter als 75 sind, zeitaufwendiger seien.
«Auch wenn ich nur zehn Minuten beim Arzt bin und dieser zwischendurch noch einen oder zwei Anrufe seiner Assistentin entgegennimmt – der Alterszuschlag wird mir immer verrechnet», meint er achselzuckend.
Die Idee, Zeitaufwand fair zu vergüten, ist ja an sich vernünftig. Aber die Botschaft «Alter gleich Aufwand» ist ungefähr so treffsicher wie ein Wetterbericht im April.
Entscheidend ist nicht das Geburtsdatum, sondern der Mensch
Denn entscheidend ist doch nicht das Geburtsdatum, sondern der Mensch, der da sitzt. Wer länger braucht, zahlt mehr. Wer mehrere Diagnosen bespricht, ebenso.
Wer aber in zehn Minuten fertig ist, zahlt doch einfach die zehn Minuten. Ganz egal, ob er 4, 44 oder 84 ist.

Ich frage bei meinen Eltern und weiteren Bekannten über 75 nach. Und alle bestätigen mir, dass, ganz egal wie lang oder kurz sie beim Arzt seien, der «Seniorenzuschlag» immer verrechnet werde.
«Das ärgert mich schon sehr», sagt etwa meine topfitte 82-jährige Tante, mit deren Wandertempo mancher Mittfünfziger seine liebe Mühe hätte und die so scharfsinnig wie eh und je Zeitungsberichte und Literatur analysiert.
Alter ist keine Krankheit, sondern ein Lebensabschnitt
Statt unfairen Zuschlägen nach Alterskategorien – und wir wissen ja alle, wie wenig das Alter über den körperlich-geistigen Zustand eines Menschen aussagt – bräuchte es also einfach eine ehrliche Abrechnung nach individuellem Aufwand.
Denn Alter per se ist schliesslich keine Krankheit, sondern ein Lebensabschnitt. Menschen über 75 mit Kleinkindern und Mehraufwand gleichzusetzen ist ungefähr so logisch, wie einem Marathonläufer einen Rollator zu schenken, nur weil er graue Haare hat.