Experten blicken mit Sorge auf die befürchtete Omikron-Welle. Auch die allgemeine Impfpflicht wird wieder diskutiert. SPD-Chef Klingbeil sagt: Politik müsse «dazulernen» dürfen.
Eine Frau bekommt in der Praxis ihrer Hausärztin ihre Booster-Impfung. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Eine Frau bekommt in der Praxis ihrer Hausärztin ihre Booster-Impfung. Foto: Wolfgang Kumm/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • An einer allgemeinen Corona-Impfpflicht wird Deutschland nach Ansicht von Spitzenpolitikern verschiedener Parteien voraussichtlich nicht herumkommen.

SPD-Chef Lars Klingbeil sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Donnerstag), würde die Impfquote von derzeit 70 Prozent in Deutschland schlagartig auf 95 Prozent steigen, wäre eine Pflicht nicht nötig. «Das sehe ich aktuell aber nicht.»

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) nannte eine Impfpflicht in den ARD-Tagesthemen «unerlässlich». Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey bezeichnete sie bei RTL/ntv als «logische Schlussfolgerung».

Die Corona-Zahlen in Deutschland sinken zwar zunächst weiter. Experten befürchten wegen der ansteckenderen Omikron-Variante aber eine baldige Trendumkehr. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) rechnet mit einer grossen Welle zum Jahreswechsel. Über die anstehenden Feiertage wird vorerst mit wenig aussagekräftigen Corona-Daten gerechnet.

Nach dem Bund-Länder-Beschluss zu verschärften Massnahmen nach Weihnachten gehen die Bundesländer unterdessen wieder eigene Wege: Sowohl in Berlin als auch in Hamburg und Schleswig-Holstein bleiben nach Weihnachten weiterhin in begrenztem Umfang Zuschauer bei Sportveranstaltungen erlaubt. Das beschlossen die Landesregierungen. Bund und Länder hatten am Dienstag vereinbart, dass «überregionale Grossveranstaltungen» spätestens ab 28. Dezember ohne Zuschauer stattfinden müssen. Allerdings wurde nicht definiert, was genau unter diesen Begriff fällt. In Schleswig-Holstein dürfen auch Clubs und Diskotheken weiter geöffnet bleiben, aber nur noch mit halber Kapazität betrieben werden.

«Das war ein Fehler»

Klingbeil bezeichnete es als einen Fehler, eine Impfpflicht zuerst ausgeschlossen zu haben. «Auch ich persönlich habe das getan.» Er habe geglaubt, dass sich sehr viel mehr Menschen impfen lassen würden, als es bis heute tatsächlich der Fall sei. «Ich habe deshalb immer sehr überzeugt gesagt, es wird keine Impfpflicht kommen. Das war ein Fehler. Aber ich finde es wichtig, dass Politik auch dazulernen darf.»

NRW-Ministerpräsident Wüst sagte, eine «Dauerschleife» von Lockerungen und Lockdowns müsse vermieden werden. «Da müssen wir raus. Deswegen ist die Impfpflicht unerlässlich.» Giffey nannte eine Impfpflicht grundsätzlich das «allerletzte Mittel». Aber ab dem Punkt, an dem der gesamte Gesundheitsschutz der Bevölkerung sowie die kritische Infrastruktur gefährdet seien, müsse man in der Abwägung diese Pflicht auch eingehen. «Deswegen ist es jetzt eine logische Schlussfolgerung, das zu tun.»

Am Mittwoch hatte der Ethikrat sich dafür ausgesprochen, die schon für Beschäftigte in Kliniken oder Pflegeheimen beschlossene Impfpflicht auf «wesentliche Teile der Bevölkerung» auszuweiten. Angedacht ist, dass der Bundestag ohne Fraktionszwang über eine mögliche Einführung abstimmt. Wann das passiert, ist weiter offen. Unklar ist auch noch die Ausgestaltung: Denkbar wäre etwa, dass eine Pflicht für alle Erwachsenen kommt oder auch nur für bestimmte Risiko- und Altersgruppen. Erwartet wird, dass sich Parlamentarier über Parteigrenzen hinweg zusammentun und entsprechende sogenannte Gruppenanträge vorlegen, über die dann abgestimmt wird.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe zur Frage, wie ein solcher Antrag gestaltet sein müsse, damit sie zustimme. Er müsse verhältnismässig sein. «Es muss etwa Klarheit herrschen, ob wir mit dieser Form der Impfpflicht die Krise nachhaltig bekämpfen können. Meine persönliche Tendenz geht zu einer partiellen Impfpflicht.»

Zahlen sinken, aber Welle droht

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz gab das Robert Koch-Institut am Donnerstag mit 280,3 an, nach 289 am Vortag. Die Gesundheitsämter übermittelten 44.927 Neuinfektionen. Vor genau einer Woche waren es 56.677. Die Zahl geht seit rund drei Wochen zurück. Bei der Beurteilung der Lage droht Deutschland nun aber Ungewissheit bis ins neue Jahr hinein. Die Verbandschefin der Amtsärzte, Ute Teichert, geht davon aus, dass es über die Feiertage und zwischen den Jahren bei den offiziell gemeldeten Corona-Zahlen zu einer Untererfassung kommen könnte. «Verlässlich dürften die Zahlen erst wieder Anfang Januar sein.»

Parallel dazu könnte sich die befürchtete Omikron-Welle aufbauen: «Eine grosse, schnelle Welle haben wir noch nicht. Das wird sich ändern zum Jahreswechsel und in der ersten Januar-Woche», sagte Lauterbach am Donnerstag bei WDR 2. In Grossbritannien haben die täglichen Zahlen inzwischen die 100.000er-Marke überschritten.

Mittlerweile ist Omikron in allen Bundesländern angekommen. Auch wenn der überwiegende Anteil der Infektionen nach wie vor von der Delta-Variante des Coronavirus verursacht wird, ist die Zahl der nachgewiesenen Omikron-Fälle in den letzten Wochen deutlich angestiegen, schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) in seinem Wochenbericht. Bis zum 21. Dezember seien 441 über eine Genomsequenzierung bestätigte Omikron-Infektionen übermittelt worden. Bei 1438 Fällen bestehe nach einem spezifischen PCR-Tests der Verdacht darauf. In Deutschland wird jedoch nur ein kleiner Teil der positiven Proben auf Omikron hin getestet.

Studien machen Hoffnung

Studien aus Südafrika und Grossbritannien deuten inzwischen zwar darauf hin, dass Omikron weniger krank machen könnte als die Delta-Variante des Coronavirus. Experten raten aber davon ab, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und verweisen auf Unterschiede zwischen Südafrika und Deutschland, etwa beim Altersdurchschnitt der Bevölkerung.

Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebunds, Frank Ulrich Montgomery, sagte am Donnerstag dem Nachrichtensender Welt, wenn sich die britischen Zahlen bestätigen liessen, sei das ein Hoffnungsschimmer aber «überhaupt keine Entwarnung». Auch Lauterbach sprach in «Bild» zwar von einer «guten Nachricht», warnte aber ebenfalls davor, «dies als Anlass zur Entwarnung zu sehen». Omikron sei so viel ansteckender, dass das grosse Problem weiterhin bestehen bleibe. «Wir haben es mit einer Herausforderung zu tun, die wir bisher noch nicht hatten.»

Selbst bei einem milderen Verlauf werden durch die erwartet hohen Ansteckungszahlen Belastungen des Gesundheitssystems und von wichtigen Bereichen der Infrastruktur befürchtet, weil viele Beschäftigte wegen einer Infektion und Quarantäneanordnungen ausfallen könnten.

Der designierte CDU-Chef Friedrich Merz riet unterdessen dazu, die Bevölkerung «nicht in Angst und Schrecken» zu versetzen. «Es gibt in unserem Land leider eine gewisse Neigung, immer denen besonders viel Gehör zu schenken, die die Situation besonders dramatisch darstellen», sagte er im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Pandemie müsse den politischen Entscheidungsträgern Respekt gebieten, «aber sie sollten nicht in Angst erstarren».

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