Angesichts der deutlich gedrosselten russischen Gaslieferungen hält die deutsche Industrie eine verstärkte Nutzung von Kohle für die Stromgewinnung für unumgänglich: «Versorgungssicherheit ist erste Priorität», erklärte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, am Dienstag.
Kohlekraftwerk
Das Kohlekraftwerk im deutschen Niederaussem. - AFP/Archiv

Deshalb müsse es «jetzt Vorrang für das Füllen der Gasspeicher» geben, statt Gas zu verstromen. Experten der Denkfabrik Agora Energiewende rechnen bei einer intensiveren Nutzung von Kohlekraftwerken zur Stromerzeugung mit steigenden Treibhausgasemissionen.

Hintergrund der Debatte um eine Reduzierung des Gasverbrauchs und einen zumindest punktuellen Ersatz durch mehr Kohlekraft ist, dass Russland seine Lieferungen in der vergangenen Woche deutlich verringert hatte. Die Lage sei «angespannt», bekräftigte die Bundesnetzagentur am Dienstag erneut; die aktuellen Füllstände der Speicher in Deutschland liegen demnach bei 58,1 Prozent.

BDI-Präsident Russwurm forderte eine Beschleunigung und Neujustierung der Energiewende. Aktuell müsse es aber «notgedrungen mehr Strom aus Kohle» geben, «damit wir zum Winter volle Gasspeicher haben», verlangte er. Zudem müsse der Ausbau von Wind- und Solaranlagen und den verbindenden Stromtrassen «viel schneller als bisher umgesetzt werden». Ganz oben auf die Agenda gehörten darüber hinaus die Sicherung neuer Bezugsquellen und der Aufbau einer Infrastruktur für Flüssiggas.

Gas spielt in Deutschland auch für die Stromerzeugung eine Rolle: Im Jahr 2021 trug Gas hier rund 15 Prozent bei, im ersten Quartal dieses Jahres waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 13 Prozent.

Bei einer intensiveren Nutzung von Kohlekraftwerken zur Stromerzeugung rechnen Experten der Denkfabrik Agora Energiewende mit steigenden Treibhausgasemissionen. «Durch den kurzfristigen, vermehrten Einsatz von Kohle zum Ersatz von Gas werden die Emissionen in diesem, aber voraussichtlich auch in den kommenden Jahren zunächst steigen», sagte Deutschland-Direktor Simon Müller der «Rheinischen Post» zu den von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Sonntag angekündigten Plänen der Bundesregierung, zeitweilig mehr Strom aus Kohle zu erzeugen.

Diese Massnahme dürfe laut Agora-Direktor Müller «allenfalls eine kurzfristige Notfallmassnahme» sein, die unter anderem durch «einen schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien» kompensiert werden müsse.

Die Grünen im Bundestag rechtfertigten indes Habecks Pläne. Wirtschaftspolitiker Dieter Janecek sagte der «Rheinischen Post», niemand habe sich das gewünscht. Es werde aber «nur so» die Versorgungssicherheit im kommenden Winter für Haushalte und Industrie gewährleistet. Gleichzeitig werde «drastisch» das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren erhöht und es würden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mehr Energie einzusparen. Janecek äusserte sich zudem optimistisch, dass sich die Lage bereits im kommenden Jahr entspannen werde.

Angesichts der geplanten zusätzlichen Kohlekraft-Nutzung stoppt der Kraftwerksbetreiber RWE derweil nach eigenen Angaben die eigentlich geplante Frühverrentung von Mitarbeitern. Man werde die «Personalplanung in Kraftwerken und Tagebauen an die neue Einsatzbereitschaft anpassen», sagte eine RWE-Sprecherin der «Rheinischen Post».

Netzagentur-Präsident Klaus Müller sieht unterdessen noch keinen Anlass zum Ausrufen der Gas-Notfallstufe. «Ich werbe sehr dafür, sorgfältig zu prüfen, wann der richtige Zeitpunkt für die höchste Alarmstufe ist, weil das Marktkräfte freisetzen würde», sagte er am Dienstag im Bayerischen Rundfunk und verwies auf «Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Wertschöpfungsketten und Industrieanlagen». Die Bundesregierung hatte im März wegen der Versorgungskrise angesichts des Ukraine-Kriegs die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. In dem Notfallplan folgen die Alarmstufe und die Notfallstufe.

Zur Diskussion um längere Laufzeiten von Atomkraftwerken, wie sie unter anderem aus der FDP gefordert werden, und die von Habeck vorgeschlagene Kohlekraft als Gas-Ersatz sagte Müller, dass dies eine hochpolitische Frage sei - und eine «Abwägung zwischen zwei Übeln, aber ich glaube, dass die Bundesregierung richtig entscheidet».

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