Corona verschärft ein wachsendes gesellschaftliches Problem: Viele Ältere in Deutschland vereinsamen. Manche sterben alleine, ohne dass es jemand merkt. Der Kampf gegen dieses Elend hat erst begonnen.
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Die Corona-Pandemie verschärft ein wachsendes gesellschaftliches Problem: Einsamkeit im Alter. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • «Am besten du bleibst sitzen und wartest auf das Ende», sagt die 93-Jährige in ihrem Fernsehsessel.

Mehr als Fernsehen bleibt der Frau nicht als Abwechslung, wie der Kommentator einer aktuellen ARD-Dokumentation über Not und Hoffnung von Senioren erläutert.

Die Corona-Pandemie verschärft ein wachsendes gesellschaftliches Problem wie ein Brennglas: Einsamkeit im Alter. Was rollt da auf Deutschland zu? Kümmert sich die Politik genug?

Die 93-Jährige blickt auf lebhafte Jahre zurück. «Ich war ein geselliger Mensch», sagt sie, «aber werden Sie mal 93 Jahre alt, was da noch bleibt, was da an Umfeld wegbricht, an Verwandten, an Freunden, an Kollegen. Sie werden immer einsamer, zwangsläufig.» Noch habe sie etwas Selbstständigkeit. In ein Heim wolle sie nicht. Was aber, wenn Menschen hilfebedürftig werden, und das unbemerkt, einsam?

Isolation und mangelnde soziale Kontakte

Rund 17 Millionen Bundesbürger leben nach den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts in einem . 5,8 Millionen davon sind über 65 Jahre alt. Ein Aktivist für die , der frühere SPD-Chef Franz Müntefering, sagt: «Von den Älteren können sicher 80 Prozent für sich selbst sorgen, autark.» Aber es blieben andere, ohne Kontakte, aber in Gefahr, «physisch und psychisch irgendwann nicht mehr fähig oder nicht willens zu sein, regelmässig das Haus zu verlassen, unter Menschen zu sein».

Aus könne Depression entstehen, sagt Müntefering. Er selbst ist 80 Jahre alt, zum dritten Mal verheiratet, er schreibt Bücher und engagiert sich als Vorsitzender in der . Er kennt sie, die anderen Fälle: «Das Essen kommt auf Rädern, die Menschen müssen nichts mehr tun, das ist ziemlich trostlos.» Er sagt: «Ja, es werden Menschen gefunden, die elend dran sind, manche gestorben, ohne dass es jemand gemerkt hätte.»

Nicht alle werden mit Hilfen erreicht

Die zeigt sich problembewusst. «In den ersten Corona-Monaten haben wir besonders deutlich zu spüren bekommen, wie sich Isolation und mangelnde soziale Kontakte auswirken können», sagt Familienministerin Franziska Giffey (SPD). Viele Ältere hätten in ihrem langen Leben Krisen und Sorgen zu bewältigen gelernt. «Dennoch zeigt die Pandemie: Es gibt Grenzen, das aus eigener Kraft zu schaffen.» Giffey räumt ein: «Trotz einer Vielzahl von Hilfen und Angeboten gelingt es offensichtlich nicht gut genug, diejenigen, die wirklich einsam sind und Hilfe brauchen, auch zu erreichen.»

Die in Deutschland ist im Schnitt auf 83,4 Jahre für ein neugeborenes Mädchen und 78,6 Jahre für einen Jungen gestiegen. Es könnten, rechnen Statistiker auf Basis absehbarer Trends vor, sogar 93 und 90 Jahre im Schnitt werden. Müntefering fordert Weichenstellungen jetzt. «Bund und Länder sollten den Kommunen per Gesetz besondere Aufgaben in dem Bereich Altersstrukturen geben.» Er meint: «Der Versuch, Kontakt aufzunehmen, ist möglich. Auch die Frage: Willst Du Hilfe haben? Können wir etwas für Dich tun?» Nötig auch: Geld für Sozialarbeiter für diese Aufgabe in allen Kommunen.

Altenhilfe als kommunale Pflichtaufgabe

Aber es gibt keine Einigkeit über die Notwendigkeit eines neuen Gesetzes. «Zuerst einmal, nein - wir fordern keine neuen Bundes- und Landesgesetze», sagt der Präsident des Deutschen Caritasverbands, Peter Neher. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hingegen bemängelt, viele Kommunen liessen es an finanzieller Unterstützung für die Altenhilfe fehlen. Er fordert: «Die Altenhilfe sollte daher als kommunale Pflichtaufgabe festgeschrieben werden.»

Doch egal, ob man Caritas, Diakonie oder die Bundesministerin fragt: Es sollte mehr für die Senioren getan werden. Das ist man sich einig. Giffey verweist auf neue Konzepte dazu, «wie man jene, die sich nicht mehr selbst helfen können, erreicht und sie motiviert, diese auf sie zugeschnittenen Hilfen auch anzunehmen». Ihr Ministerium fördere etwa neu 29 Projekte gegen ungewollte Einsamkeit mit fünf Millionen Euro.

Was sind aus Expertensicht zentrale Aufgaben für Seniorenpolitik?

AUFGABE VERNETZUNG: «Auf Rädern zum Essen» - das propagiert die Arbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen in gut 100 Städten. Müntefering: «Da treffen sich Ältere und fahren mit dem Rad oder dem ÖPNV oder gehen zu Fuss. Wenn sich die Menschen erst einmal dazu überwunden haben, kann das schnell Spass machen.» Giffey verweist auf ein anderes gefördertes Projekt mit Besuchsangeboten für Hochbetagte. Neher sagt, die Quartiere müssten sich besser auf Hilfebedürftige einstellen - durch Stadtentwicklung ebenso wie durch Sicherung der Mobilität und generationengerechtem Wohnen. «Hier müssen natürlich die Kommunen aktiv werden, aber sie müssen zusammenarbeiten mit der Wohnungswirtschaft, der Freien Wohlfahrtspflege, der Zivilgesellschaft, Kirchen und Privatwirtschaft.»

AUFGABE DEMENZ: Zuerst müsse die Krankheit weiter enttabuisiert werden, meint Müntefering. «Demenzprobleme werden sich in jeder Kommune stellen.» 500 lokale Allianzen gebe es. Betroffene, Vereine, Wohlfahrtsorganisationen und andere kommen hier zusammen. Weitere Allianzen sollten folgen. Denn die Zahl der Demenzkranken könnte nach Prognosen binnen 30 Jahren um 1,2 auf 2,8 Millionen steigen. Wie soll man vorsorgen? Müntefering wirbt für das Aufsetzen einer Vorsorgevollmacht auch als Hilfe für die Angehörigen. «Darin sollte stehen: Wenn es einen Verdacht auf gibt bei mir, möchte ich zum Arzt, zu einer fachkundigen Diagnose. Und wenn die Krankheit bei mir ein Stadium erreicht, das meine Betreuung für Dich zu schwer macht, dann möchte ich in eine stationäre Einrichtung - ganz gleich, was ich dann in meiner Verwirrung sage.»

AUFGABE PALLIATIVE VERSORGUNG: Mit Palliativmedizin schwere Schmerzen erträglich zu machen - darauf haben die Versicherten Anspruch. «Wenn aber in einer Kommune kein Facharzt ist und sich niemand kümmert, ist palliative Behandlung in Heimen und Zuhause nicht garantiert», bemängelt Müntefering. Auf dem Land sei das oft so. «Kommunen müssen die Aufgabe haben, sich einzuschalten - so wie sie es bei Kitas und Schulen auch müssen.»

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