Menschen, die sich an Flugzeuge klammern - und der relativ mühelose Vormarsch der militanten Islamisten: Viele deutsche Soldaten und Soldatinnen stellen sich nach diesen Ereignissen jetzt die Sinnfrage.
Generalinspekteur Eberhard Zorn bei der Bilanzdebatte des Verteidigungsministeriums. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Generalinspekteur Eberhard Zorn bei der Bilanzdebatte des Verteidigungsministeriums. Foto: Wolfgang Kumm/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die rasche Machtübernahme der Taliban in Afghanistan beweist aus Sicht des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Eberhard Zorn, nicht, dass westliche Militärinterventionen in Konfliktregionen generell zum Scheitern verurteilt sind.

«Mir ist wichtig, dass wir aus den Schlussbildern der letzten Monate nicht den Schluss ziehen, dass internationales - auch militärisches - Krisenmanagement mit dem Ziel der Stabilisierung einer Region nicht erfolgversprechend sein kann und daher besser erst gar nicht versucht werden sollte», sagte Zorn am Mittwoch in Berlin zu Beginn einer Bilanzdebatte des Verteidigungsministeriums zu dem 20-jährigen Einsatz.

Zorn betonte, es sei mit Blick auf aktuelle und mögliche künftige Auslandseinsätze dennoch dringend notwendig zu fragen: «Haben wir das Land und seine Bevölkerung überfordert?». Und: «Wieso hat uns die Lageentwicklung am Ende derart überraschen können?» Das Militär habe in Afghanistan einen Sicherheitsrahmen geschaffen. Dieser sei aber nicht für eine politische Stabilisierung genutzt worden.

Auch mit Blick auf Einsatz in Mali

Auch mit Blick auf den gefährlichen Einsatz in Mali, sagte Generalarzt Ralf Hoffmann, die mit dem jeweiligen Einsatz verfolgten Ziele müssten regelmässig überprüft werden. Dazu gehöre auch die Frage: «Haben wir die richtigen Mittel dafür eingesetzt?» Hoffmann, der sich als Beauftragter des Verteidigungsministeriums um im Einsatz traumatisierte Menschen kümmert, sagte, das «wünschen sich auch viele Soldaten, dass das klar definiert wird».

Ungeachtet des Engagements der Europäischen Union und der UN haben Militärs in Mali seit 2020 zwei Mal geputscht und dabei eine korrupte und weitgehend erfolglose Regierung abgelöst. Zudem haben Berichte über einen möglichen Einsatz von Truppen der russischen Söldnerfirma Wagner in dem westafrikanischen Land in Paris und Berlin Sorgen sowie eine Debatte über ein mögliches baldiges Ende des Einsatzes ausgelöst.

Der Kommandeur des letzten deutschen Einsatzkontingentes der Ausbildungsmission «Resolute Support» in Afghanistan, Brigadegeneral Ansgar Meyer, sagte, es habe sicher «Defizite» bei den afghanischen Sicherheitskräften gegeben, etwa bei ihrer Logistik oder Durchhaltefähigkeit. «Da können wir uns auch nicht ganz freisprechen», fügte er hinzu.

Meyer: «Das war zum Scheitern verurteilt»

Dennoch habe nicht das fehlende Durchhaltevermögen der lokalen Sicherheitskräfte zur schnellen Machtübernahme der Taliban geführt. Es habe auch an der militärischen Führung der afghanischen Streitkräfte gelegen, sagte Meyer, der Ende September das Kommando über die Spezialkräfte des Heeres übernommen hatte. So seien etwa im laufenden Gefecht Gouverneure und Polizeichefs ausgetauscht worden, «weil man glaubte, mit vertrauenswürdigen Personal aus dem eigenen Umfeld die Situation stabilisieren zu können. Das war zum Scheitern verurteilt».

Meyer zog auch eine persönliche Bilanz. Er sagte: «Zwei Herzen schlagen in meiner Brust, auf der einen Seite schon, ohne eitel klingen zu wollen, Stolz und Freude, dass wir eine komplexe Operation erfolgreich beendet haben. Auf der anderen Seite aber auch fast das Gefühl des Entsetzens, dass im Grunde die afghanischen Sicherheitskräfte ohne jeglichen Widerstand nach Hause gegangen sind und im Grunde den Raum gelassen haben für die Taliban

Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) und Verteidigungspolitiker von Grünen, FDP, SPD und Union hatten ihre Teilnahme an der Veranstaltung abgesagt. Dabei wurde auf einen unpassenden Zeitpunkt der Bilanzdebatte kurz nach der Bundestagswahl verwiesen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) verteidigte ihr Vorgehen. Sie sagte, es sei ihr wichtig gewesen, «dass wir die Debatte heute starten». Das Verteidigungsministerium wolle sich nicht dem Verdacht aussetzen, mit dem für Mittwoch kommender Woche geplanten Grossen Zapfenstreich «eine besonders glanzvolle Decke über den Afghanistan-Einsatz» zu legen, um dadurch eine ehrliche Debatte zu verhindern.

Dagdelen fordert Untersuchungsausschuss

FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann nannte die Podiumsdiskussion bei Bayern 2 eine «Respektlosigkeit». Sie sagte: «Wir hatten die Ministerin im Vorfeld darum gebeten, das nicht in die Null-Zeit zu legen. Also in die Zeit zwischen der Bundestagswahl und der Konstituierung des neuen Bundestages.» Es gelte nun zu schauen, «dass wir nicht in Einsätze gehen, deren Ziele wir nicht erreichen können».

Die AfD habe den Afghanistan-Einsatz zwar immer abgelehnt, sagte der AfD-Abgeordnete Peter Felser. Dass Politiker anderer Parteien der Debatte fernblieben, sei gegenüber den in Afghanistan eingesetzten Bundeswehr-Angehörigen dennoch respektlos. Die Obfrau der Linkspartei im Auswärtigen Ausschuss, Sevim Dagdelen, kritisierte, die vom Ministerium organisierte Debatte sei der falsche Rahmen. Dagdelen sagte: «Die Niederlage nach 20 Jahren Krieg mit Hunderttausenden Toten und Verletzten in Afghanistan, Kriegsverbrechen der Nato sowie die Kooperation der Besatzungstruppen mit Warlords und einer durch und durch korrupten Marionetten-Regierung in Kabul müssen vom neuen Bundestag in einem Untersuchungsausschuss selbstkritisch aufgearbeitet werden.»

Der Auftakt der Bilanzierung war ursprünglich für Ende August geplant, er wurde aber wegen der militärischen Evakuierungsoperation in Kabul nach dem unerwartet schnellen Sieg der Taliban verschoben. Bei dem 20 Jahre dauernden Einsatz starben 59 Männer aus den Reihen der Bundeswehr. Zorn sagte, für den Afghanistan-Einsatz habe es in der deutschen Öffentlichkeit zu keinem Zeitpunkt grosse Unterstützung gegeben. Es sei nun an der Zeit zu überlegen, wie man künftig über derartige Einsätze informiere. An die Adresse der rund 93 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan waren, sagte der General: «Sie haben im Auftrag der Regierung und mit dem Mandat des Parlaments Sinnvolles geleistet.»

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