Nach der Machtübernahme der Taliban mehren sich Fragen zur Rolle der Geheimdienste. Die US-Regierung will keine Warnung bekommen haben. Biden räumt beim Abzug aus Afghanistan keine Fehler ein.
US-Präsident Joe Biden hat Probleme bei der Evakuierung von Afghanen aus Kabul wegen des Vorgehens der Taliban angedeutet. Foto: Susan Walsh/AP/dpa
US-Präsident Joe Biden hat Probleme bei der Evakuierung von Afghanen aus Kabul wegen des Vorgehens der Taliban angedeutet. Foto: Susan Walsh/AP/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Das Chaos beim Abzug der US-Truppen war nach Ansicht von Präsident Joe Biden unvermeidbar - aufgrund des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung, des Militärs und der schnellen Machtübernahme der Taliban.

Er wisse nicht, wie man es hätte schaffen können, den Abzug angesichts dieser Lage «ohne Chaos» zu meistern, sagte Biden in einem Interview des Fernsehsenders ABC. Gleichzeitig versicherte er, die US-Soldaten am Flughafen Kabul könnten notfalls auch über den geplanten Abzugstermin am 31. August hinaus bleiben, falls bis dahin noch nicht alle ausreisewilligen Amerikaner evakuiert worden seien.

«Wenn dort noch amerikanische Bürger sind, werden wir bleiben, bis wir sie alle rausgeholt haben», sagte Biden in dem Interview. Auf die Frage, ob die US-Regierung angesichts des jüngsten Chaos am Flughafen in Kabul Fehler gemacht habe oder ob man besser mit der Lage hätte umgehen können, entgegnete Biden: «Nein. Ich glaube nicht, dass wir es auf eine Weise managen konnten (...), um ohne Chaos rauszukommen. Ich weiss nicht, wie das gehen soll.»

Frage nach möglichem Versagen der Geheimdienste

Das US-Militär erklärte unterdessen, es habe keine Warnungen der Geheimdienste gegeben, die einen so schnellen Kollaps von Regierung und Streitkräften in Afghanistan vorhergesehen hätten. «Es gab nichts, das ich gesehen habe, oder irgendjemand anders, das auf einen Zusammenbruch dieser Armee und dieser Regierung innerhalb von elf Tagen hingewiesen hätte», sagte Generalstabschef Mark Milley. Es habe mehrere Szenarien gegeben, darunter eine rasche Machtübernahme der Taliban nach einem Kollaps. «Aber der zeitliche Rahmen eines schnellen Zusammenbruchs wurde weithin auf Wochen, Monate oder sogar Jahre nach unserem Abzug eingeschätzt», sagte Milley.

Die afghanischen Sicherheitskräfte seien den Taliban in Bezug auf Truppenstärke, Ausbildung und Ausrüstung überlegen gewesen, betonte Milley. Letztlich sei es eine Frage des «Willens und der Führung» gewesen. ABC-Journalist George Stephanopoulos fragte Biden nach seinen Äusserungen vom vergangenen Monat, wonach eine Machtübernahme durch die Taliban «hochgradig unwahrscheinlich» sei. Biden erklärte, es habe damals innerhalb der Geheimdienste «keinen Konsens» bezüglich der Prognosen für Afghanistan gegeben. Damals habe es geheissen, eine Machtübernahme sei gegen Ende des Jahres wahrscheinlicher.

US-Medien hatten zuletzt unter Berufung auf Geheimdienstkreise berichtet, dass die Regierung intern Warnungen vor einem möglicherweise sehr schnellen Zusammenbruch bekommen haben soll.

Die Frage nach einem möglichen Versagen der Geheimdienste dürfte am Donnerstag (9.00 Uhr) in Berlin auch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags beschäftigen. Bei einer Sondersitzung wurde nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur auch der Chef des für die Auslandsaufklärung zuständigen Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, erwartet. Das Gremium überwacht die Arbeit der deutschen Geheimdienste. Auch der Innenausschuss des Bundestags sollte wegen Afghanistan zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

In dem Interview räumte Biden mit Blick auf das Vorgehen der Taliban Probleme bei der Evakuierung von Afghanen ein. Zwar würden die Islamisten «kooperieren» und US-Bürger und Botschaftsmitarbeiter ausreisen lassen, sagte er. Mit Blick auf die Evakuierung der früheren afghanischen Mitarbeiter der US-Behörden und Streitkräfte sagte Biden allerdings, es gebe «ein bisschen mehr Schwierigkeiten», sie rauszubekommen.

Biden sprach von etwa 50.000 bis 65.000 Helfern einschliesslich ihrer Familien, wollte sich aber nicht festlegen, ob das US-Militär seinen Einsatz auch für deren Evakuierung verlängern würde. «Die Verpflichtung besteht darin, alle rauszuholen, die wir rausholen können, und alle, die rausgeholt werden sollten», sagte Biden. Das Ziel sei es weiter, den Einsatz bis 31. August abzuschliessen.

Das US-Militär hat bislang nach eigenen Angaben gut 5000 Menschen evakuiert. Auch die Bundeswehr setzt ihre Evakuierungsflüge von Kabul in die usbekische Hauptstadt Taschkent fort. Ihre Militärmaschinen flogen bis zum frühen Donnerstagmorgen mehr als 900 Menschen aus.

Die Taliban haben Kabul unter Kontrolle und vor dem Flughafen Checkpoints errichtet. Berichten zufolge wurden viele Afghanen, aber auch manche Ausländer, von ihnen nicht durchgelassen. Aussenminister Heiko Maas beschrieb die Lage am Flughafen am Mittwoch nach der Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung als weiterhin zum Teil «ausserordentlich chaotisch». «Die Anzahl der Zugangspunkte ist beschränkt. Und nach unseren Informationen scharen sich Hunderte von Menschen vor diesen Toren, teilweise werden das auch Tausende, und dabei ist es immer wieder zu Gewaltausbrüchen gekommen», sagte er.

Der Flughafen wird inzwischen vom US-Militär kontrolliert. Der Kommandeur der US-Truppen dort steht nach Militärangaben regelmässig in Kontakt mit jenem Taliban-Anführer, der die Oberhand über die Umgebung des Flughafens hat. Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte im Pentagon, das Militär werde «alles tun, was in unserer Macht steht», um die Lage zu entschärfen und dafür zu sorgen, dass die Menschen zum Flughafen durchgelassen werden. Er betonte allerdings, dass es dem US-Militär nicht möglich sei, seinen Einsatz auf Kabul auszuweiten.

Wohl als indirekte Warnung an die Taliban betonte Generalstabschef Milley, das US-Militär habe neben den aktuell 4500 Soldatinnen und Soldaten am Flughafen Kabul bei Bedarf auch Zugriff auf zahlreiche Kampfflugzeuge, Bomber und Drohnen in der Region. In Kabul selbst gebe es zudem eine «bedeutende Zahl» Hubschrauber, sagte Milley. Unter anderem stünden in der Region Staffeln der Kampfflugzeuge der Typen F-16 und F-18 sowie die als «Reaper» (Sensenmann) bekannten Drohnen vom Typ MQ-9 und Langstreckenbomber vom Typ B-52 bereit.

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