«Ich sage JA zu allem, was gerade ist»
In diesem Gastbeitrag erklärt Coach Raphael Fässler, wie Ja-Sagen zum Moment zu Kraft und Frieden führen kann.

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen von Leon, ein Mann mittleren Alters aus einem Dorf namens Präsenzau. Einmal mehr starrte Leon an die Decke. Schon wieder dieser Schmerz – stechend, bohrend, unnachgiebig. Seit dem Unfall vor drei Jahren war er sein ständiger Begleiter. Nichts half langfristig. Arztbesuche, Tabletten, Gesprächstherapie, Zigaretten, Alkohol – alles nur kurzfristige Flüchte. Er war müde. Müde vom Kämpfen.
Was, wenn dein Schmerz nicht dein Feind ist, sondern dein Lehrer?
Am Tag zuvor hatte seine Freundin Marisol ihm einen Satz gesagt, der sich in Leons Gedanken eingenistet hatte wie ein funkelnder Same: «Was, wenn dein Schmerz nicht dein Feind ist, sondern dein Lehrer? Er geht erst, wenn du ihn annimmst.»
Leon ging anfänglich sofort in den Widerstand und winkte ab. Wer sagt schon freiwillig Ja zum Schmerz? Doch da war ein Teil in ihm, der nicht mehr fliehen und sich verstecken wollte. Der nicht mehr kämpfen konnte.
Er sah auf seine Handinnenfläche, wo er sich am Morgen mit Kugelschreiber ein einfaches Wort – eine Eselsbrücke notiert hatte: «JA».
Zögernd legte er die Hand auf sein schmerzendes Knie. «Ich sage Ja zu dir», flüsterte er leise. Es war kein magischer Moment. Der Schmerz blieb. Doch etwas in ihm – eine Spannung, ein innerer Kampf – löste sich.
Was du bekämpfst, bleibt. Was du umarmst, wandelt sich
In den nächsten Tagen begann Leon zu beobachten, wie oft er innerlich «Nein» sagte: Nein zur Müdigkeit. Nein zum Regen. Nein zum Stau. Nein zu sich selbst.
Und jedes Mal hielt er inne, atmete tief und sagte: «Ich sage Ja zu dir.» Manchmal weinte er dabei. Manchmal lachte er über sich selbst. Doch immer spürte er: Dieses Ja war kein Aufgeben. Es war ein Ankommen.
Er erinnerte sich an einen Satz, den Marisol ihm später schickte: «Was du bekämpfst, bleibt. Was du umarmst, wandelt sich.»
Seither hängt ein post-it Zettel an seinem Spiegel im Bad – mit folgender Aufschrift: «Jeden Moment, jeden Aspekt in deinem Leben, den du ablehnst, bleibt. Jeden Moment, jeden Aspekt, den du annimmst, wandelt sich.»
Begegne dem Leben, begegne dem Moment
Je mehr Leon Ja sagte – zu seinem Körper, seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seinen Handlungen, sogar zu unangenehmen Gesprächen, zu jetzigen Moment – desto leichter fühlte er sich. Er kämpfte nicht mehr gegen die Realität. Er begann, mit ihr zu fliessen.
An einem verregneten Abend, Wochen später, sass Leon wieder am Fenster. Der Regen perlte an der Scheibe wie Tränen auf einer Wange. Doch diesmal war da kein Widerstand mehr. Nur Stille. Nur Frieden.
Er schrieb in sein Tagebuch: «Heute habe ich zum ersten Mal verstanden, dass Stärke nicht im Aushalten liegt, sondern im Annehmen. Wer annimmt, flieht nicht. Wer annimmt, begegnet. Wer annimmt, heilt. Ich sage Ja zu allem, was gerade ist – Ich sage ab jetzt Ja zu mir.»
Gesundheit ist nicht, wenn nichts mehr hinzugefügt werden kann, sondern wenn nichts mehr weggelassen werden muss
Leon war nicht geheilt – zumindest noch nicht körperlich. Doch in ihm war etwas geschehen: Er hatte aufgehört zu fliehen. Er hatte begonnen dem Leben zu begegnen. Und mit jedem JA, das er sprach, kam er sich selbst, seinem Herzen ein Stück näher.
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Raphael Fässler wirkt als Therapeut, Coach und Speaker in seiner eigenen Praxis «flowinyou» für ganzheitliche Therapie in Brunnen SZ. Der ehemalige Leistungssportler (Ski Alpin, Juniorenweltmeister) versteht es, Schicksalsschläge, Beschwerden oder Schmerzen nicht als Problem zu sehen, sondern das Geschenk für Wachstum dahinter wahrzunehmen.