Social Media trainiert unsere Herzen auf toxische Muster
«Das ständige Wechselspiel aus Belohnung und Entzug macht empfänglicher für toxische Muster», schreibt Kolumnistin Chris Oeuvray. Es sei wie bei den Narzissten.

Das Wichtigste in Kürze
- Unsere Kolumnistin Chris Oeuvray schreibt über Narzissten und Empathen.
- Und sie macht dabei einen Vergleich mit Tiktok, Instagram oder Snapchat.
- Empathen seien stark – und genau das sei ihr Risiko, schreibt Oeuvray.
Vor kurzem sass ich mit einer Klientin aus Deutschland in einem intensiven Gespräch. Viele kennen ihr Gesicht aus Reality-TV-Formaten. Auf den ersten Blick wirkt sie stark, selbstbewusst, charismatisch. Doch ihre Augen verrieten etwas anderes, als sie mich fragte:
«Chris, warum passiert das immer mir? Warum verliebe ich mich immer wieder in Männer, die mich kaputtmachen?»
Diese Frau ist klug, erfolgreich, wunderschön. Und doch war sie in einer toxischen Beziehung mit einem Narzissten gefangen.
Und das Erstaunliche ist: Sie ist kein Einzelfall. Gerade die Menschen, die am meisten zu geben haben, werden am häufigsten verletzt.
Empathen sind stark, und genau das ist ihr Risiko
Wenn du empathisch bist, trägst du ein Geschenk in dir. Du spürst andere, verstehst sie, kannst zwischen den Zeilen lesen.
Das macht dich zu einem Magneten für Menschen, die deine Stärke für sich nutzen wollen.
Narzissten suchen genau diese Fähigkeit. Sie wittern deine Bereitschaft, dich zurückzunehmen, um Harmonie zu schaffen. Dein Mitgefühl wird zu einer offenen Tür, durch die sie treten können.
Das alte Muster
Die meisten Empathen haben schon früh gelernt, Liebe nicht einfach so zu bekommen, sondern durch Anpassung oder Leistung. Dieses Muster sitzt tief.
Ein Narzisst erkennt es instinktiv und will dich schnell für sich gewinnen: Er oder sie überschüttet dich am Anfang mit Komplimenten, Nachrichten, Aufmerksamkeit. Lovebombing pur.

Dein Herz atmet auf: «Endlich sieht mich jemand.» Doch dann kippt das Spiel. Plötzlich zieht sich der Narzisst zurück, entzieht dir Nähe und Wärme.
Und dein System reagiert wie bei einer Sucht: Du willst diesen Kick zurück. Du glaubst, wenn du dir Mühe gibst, schaffst du das.
Dein Ehrgeiz ist geweckt. Du bist bereit, weit über deine eigenen Grenzen zu gehen – bis hin zur Erschöpfung.
Die Brücke zu Social Media
Genau diesen Mechanismus erleben Jugendliche heute jeden Tag. Auf Tiktok, Instagram oder Snapchat jagst du nach Likes, Herzen, Views.
Dieses ständige Wechselspiel aus Belohnung und Entzug trainiert dein Nervensystem. Und macht dich empfänglicher für toxische Muster.
Narzissten spielen das gleiche Spiel, nur raffinierter. Erst 100 Likes in Form von Komplimenten, dann Funkstille. Dein Körper schreit nach Bestätigung. Du hoffst, dass, wenn du nur genug gibst, wieder etwas zurückkommt.
Warum gerade Empathen?
Es trifft die Empathen, weil sie glauben, dass ihr Mitgefühl alles heilen kann. Dass ihre Liebe reicht, um die Leere im Narzissten zu füllen.
Sie glauben, sie haben die Macht, die Welt zu retten. Doch das ist eine Illusion. Destruktive Empathen sind stark und fokussieren ihre Kraft auf andere.
Dabei vergessen sie sich selbst. Genau das macht sie verwundbar und schwächt sie auf Dauer.

Dein Weg raus
Erkenne den Mechanismus. Was du erlebst, ist kein Zufall, sondern ein System.
Grenzen sind Selbstliebe. Dein Nein ist genauso wertvoll wie dein Ja.
Selbstwert statt Likes. Lerne, dir den inneren «Like» zu geben, anstatt auf äussere Bestätigung zu warten.
Werde dein eigener Anker. Du bist nicht hier, um andere zu retten – du bist hier, um dich selbst zu leben.
Geh deiner Vergangenheit auf den Grund: Seit wann glaubst du, gut für andere sorgen zu müssen? Warst du der Retter deiner Eltern, weil sie sich oft gestritten haben? Wurde von dir früh verlangt, dich anzupassen, dich nicht so wichtig zu nehmen, still zu sein?
Es ist Zeit, dass du beginnst, für dich einzustehen. Das ist nicht so einfach, wenn du das nicht kennst.
Beginne mit kleinen Schritten. Informiere dich über Empathen oder Co-Narzissmus. Verstehen bedeutet, Türen für Lösungen zu öffnen.
Die Geschichte meiner Klientin zeigt, dass es nicht um Intelligenz oder Stärke geht, sondern um unbewusste Muster.
Sie hat intensiv an ihren Traumata gearbeitet. Ihre Selbstliebe wird Tag für Tag stärker und ich bin gespannt, welche Art von Männern sie künftig anziehen wird.
Sie ist es wert, in einer wertschätzenden Beziehung zu sein. Und das bist du auch. Du bist nämlich genau richtig, wie du bist.
Was glaubst du: Wie sehr trainiert Social Media unsere Herzen auf toxische Muster?
Zur Person: Chris Oeuvray ist Expertin für Narzissmus, psychologische Beraterin und Autorin («Du genügst», weitere Bücher auf ch-oeuvray.ch/buecher) aus Zug.