Sommerserie «Grenzen»: Interview mit Politikprofessor

Was bedeutet es, an die Grenzen zu gehen? Was überhaupt ist eine Grenze? Das hat die Medienschule St. Gallen in einer Sommerserie für Nau.ch ausgelotet.

Was ist eine Grenze? Das lotet die Nau-Sommerserie «An die Grenzen gehen» mit verschiedensten Perspektiven aus. - Pixabay

Das Wichtigste in Kürze

  • Dieser Artikel ist Teil der Sommerserie «An die Grenzen gehen».
  • Für Nau realisiert haben diese Serie die Schüler der Medienschule St. Gallen.

Interview: Felix Mätzler, Medienschule St. Gallen

Wo es Grenzen gibt, wird auch gestritten um den Verlauf dieser Grenzen, ob im Kleinen und Privaten oder zwischen den Staaten. Hunderte von Grenzkonflikten zwischen Staaten gibt es weltweit, die einen sind subtil und versteckt, andere führen zu offenen Kriegen. Mehdi Talatialishah, Experte für Nationale Sicherheit, erklärt im Interview, wie solche Konflikte entstehen. Der gebürtige Iraner lebt heute in der Schweiz und ist Professor für Politik. Er sagt, dass Grenzkonflikte meist dann entstehen, wenn eine innere Ordnung von aussen gestört wird.

Nau.ch: Herr Talatialishah, wo starten Grenzkonflikte?

Mehdi Talatialishah: Grenzkonflikte starten in Territorien, die vor diesem Konflikt in jeder Hinsicht miteinander verbunden waren: Oft gleiche Sprache, gleiche Traditionen, gemeinsame Geschichte, also gleich die Art, wie die Menschen lebten. Aber auch bezüglich Bevölkerungsstruktur und Geografie gibt es häufig gar keine Unterschiede. Wenn nun diese Ordnung gestört, diese Gemeinsamkeit aufgelöst wird, dann entstehen Konflikte, das kann auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene sein.

Politikprofessor Mehdi Talatialishah. - Felix Mätzler

Und wer stört diese Ordnung?

Historisch gesehen gibt es zwei Elemente der Störung. Zum einen ist das die koloniale Gewalt. Also Staaten, die mit ganz kurzfristigen und materiellen Interessen die Ordnung auf den Kopf stellen. Nehmen wir hier als Beispiel Iran, das Land, aus dem ich ursprünglich stamme. Iran hat heute mit allen Nachbarn Probleme, nur mit der Türkei nicht. Iran und die Türkei definierten ihre Grenzen selber, ohne dass noch ein Dritter mitdiskutierte, das ist anders an der Grenze zu Pakistan oder zu Irak, wo es Besetzung gab.

Und das zweite Element der Störung?

Das zweite Element ist der Zerfall der Ordnung innerhalb eines Systems. Nehmen wir als Beispiel den Grenzkonflikt zwischen Iran und Aserbaidschan. In dieser Region lebten Menschen mit gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Traditionen. Doch Iran akzeptiert die Unabhängigkeit des Nachbarn nicht und begann damit, Menschen anderer Volksgruppen im Grenzgebiet anzusiedeln. Das führte bald zu Spannungen. Das gleiche machte Iraks Sadam Hussein in Kirkuk; dort war es gegen die Kurden gerichtet. Das machten schon die Römer, das machten die Türken zur Zeit des Osmanischen Reiches im Balkan.

Aber daneben gibt es ja auch noch Konflikte im kleinflächigen Bereich, zwei Dörfer, die sich bekriegen…

Konflikte im lokalen Bereich starten meistens, wenn es um begrenze Ressourcen geht, wie etwa Wasser oder Bodenschätze. Aber viel häufiger sind die territorialen Konflikte, und diese können sich über Jahrhunderte hinziehen.

Politikprofessor Mehdi Talatialishah - Felix Mätzler

In vielen Konflikten scheint es von aussen, dass es um Religionszugehörigkeit geht, etwa bei den Kriegen im Balkan, oder auch im Streit zwischen Israel und Palästinensern.

Anders als bei den historischen Religionskriegen geht es heute bei Grenzkonflikten nicht um Religion. Selbst wenn sich die Kontrahenten auf ihre Religion berufen, geht es ihnen um Land. Beim Konflikt in Palästina geht es darum, dass Israel palästinensisches Land besetzt hat, und zufälligerweise sind die einen Juden und die anderen Muslime.

Der IS berief sich bei seinen Eroberungsfeldzügen auf Religion…

Diese Leuten benutzen Religion als Entschuldigung für die Barbarei, die sie betreiben. Wenn Menschen in den Krieg ziehen gegen andere, dann berufen sie sich auf Merkmale, die sie von ihren Gegnern unterscheiden. Dann rufen die Juden, sie seien das auserwählte Volk, und die Muslime betonen, sie bewohnten ein Land, das allen Muslimen heilig sein müsse. So wird versucht, Gleichgesinnte hinter sich zu bringen.

Politikprofessor Mehdi Talatialishah - Felix Mätzler

Wir hören hier täglich von Dutzenden von Grenzkonflikten in unterschiedlicher Ausprägung. Konflikte in Syrien, in Israel oder in der Ukraine. Und dann gibt es hunderte Konflikte, von denen wir nie etwas hören. Woran liegt das?

Konflikte werden von uns wahrgenommen, wenn sie einen direkten Bezug zu uns haben oder wenn die Weltmächte involviert sind. Andernfalls gehen sie bei uns vergessen, auch von den Medien.

Ein Beispiel?

Ein Beispiel ist Südsudan, dort starben Menschen in Massen. Oder die aktuelle Situation in Jemen; eine Katastrophe, was sich dort ereignet. Es gibt vergessene Konflikte in Indien oder in Südamerika. Oder schauen Sie, was die Chinesen mit den Tibetern machen – und niemanden interessiert es. Da gibt es stillschweigende Abkommen zwischen den Supermächten, nach dem Motto: Du schweigst zu meinem Konflikt, ich schweige zu deinem.