Sommerserie «Grenzen»: Interview mit Politikprofessor
Was bedeutet es, an die Grenzen zu gehen? Was überhaupt ist eine Grenze? Das hat die Medienschule St. Gallen in einer Sommerserie für Nau.ch ausgelotet.
Das Wichtigste in Kürze
- Dieser Artikel ist Teil der Sommerserie «An die Grenzen gehen».
- Für Nau realisiert haben diese Serie die Schüler der Medienschule St. Gallen.
Interview: Felix Mätzler, Medienschule St. Gallen
Wo es Grenzen gibt, wird auch gestritten um den Verlauf dieser Grenzen, ob im Kleinen und Privaten oder zwischen den Staaten. Hunderte von Grenzkonflikten zwischen Staaten gibt es weltweit, die einen sind subtil und versteckt, andere führen zu offenen Kriegen. Mehdi Talatialishah, Experte für Nationale Sicherheit, erklärt im Interview, wie solche Konflikte entstehen. Der gebürtige Iraner lebt heute in der Schweiz und ist Professor für Politik. Er sagt, dass Grenzkonflikte meist dann entstehen, wenn eine innere Ordnung von aussen gestört wird.
Nau.ch:
Herr Talatialishah, wo starten Grenzkonflikte?
Mehdi Talatialishah: Grenzkonflikte
starten in Territorien, die vor diesem Konflikt in jeder Hinsicht miteinander
verbunden waren: Oft gleiche Sprache, gleiche Traditionen, gemeinsame
Geschichte, also gleich die Art, wie die Menschen lebten. Aber auch bezüglich
Bevölkerungsstruktur und Geografie gibt es häufig gar keine Unterschiede. Wenn nun
diese Ordnung gestört, diese Gemeinsamkeit aufgelöst wird, dann entstehen Konflikte,
das kann auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene sein.
Und
wer stört diese Ordnung?
Historisch gesehen gibt es zwei
Elemente der Störung. Zum einen ist das die koloniale Gewalt. Also Staaten, die
mit ganz kurzfristigen und materiellen Interessen die Ordnung auf den Kopf
stellen. Nehmen wir hier als Beispiel Iran, das Land, aus dem ich ursprünglich
stamme. Iran hat heute mit allen Nachbarn Probleme, nur mit der Türkei nicht. Iran
und die Türkei definierten ihre Grenzen selber, ohne dass noch ein Dritter
mitdiskutierte, das ist anders an der Grenze zu Pakistan oder zu Irak, wo es
Besetzung gab.
Und
das zweite Element der Störung?
Das zweite Element ist der Zerfall
der Ordnung innerhalb eines Systems. Nehmen wir als Beispiel den Grenzkonflikt
zwischen Iran und Aserbaidschan. In dieser Region lebten Menschen mit
gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Traditionen. Doch Iran akzeptiert die
Unabhängigkeit des Nachbarn nicht und begann damit, Menschen anderer
Volksgruppen im Grenzgebiet anzusiedeln. Das führte bald zu Spannungen. Das
gleiche machte Iraks Sadam Hussein in Kirkuk; dort war es gegen die Kurden
gerichtet. Das machten schon die Römer, das machten die Türken zur Zeit des Osmanischen
Reiches im Balkan.
Aber
daneben gibt es ja auch noch Konflikte
im kleinflächigen Bereich, zwei Dörfer, die sich bekriegen…
Konflikte im lokalen Bereich starten
meistens, wenn es um begrenze Ressourcen geht, wie etwa Wasser oder
Bodenschätze. Aber viel häufiger sind die territorialen Konflikte, und diese
können sich über Jahrhunderte hinziehen.
In
vielen Konflikten scheint es von aussen, dass es um Religionszugehörigkeit
geht, etwa bei den Kriegen im Balkan, oder auch im Streit zwischen Israel und
Palästinensern.
Anders als bei den historischen
Religionskriegen geht es heute bei Grenzkonflikten nicht um Religion. Selbst
wenn sich die Kontrahenten auf ihre Religion berufen, geht es ihnen um Land.
Beim Konflikt in Palästina geht es darum, dass Israel palästinensisches Land
besetzt hat, und zufälligerweise sind die einen Juden und die anderen Muslime.
Der
IS berief sich bei seinen Eroberungsfeldzügen auf Religion…
Diese Leuten benutzen Religion als Entschuldigung
für die Barbarei, die sie betreiben. Wenn Menschen in den Krieg ziehen gegen
andere, dann berufen sie sich auf Merkmale, die sie von ihren Gegnern
unterscheiden. Dann rufen die Juden, sie seien das auserwählte Volk, und die
Muslime betonen, sie bewohnten ein Land, das allen Muslimen heilig sein müsse.
So wird versucht, Gleichgesinnte hinter sich zu bringen.
Wir
hören hier täglich von Dutzenden von Grenzkonflikten in unterschiedlicher
Ausprägung. Konflikte in Syrien, in Israel oder in der Ukraine. Und dann gibt
es hunderte Konflikte, von denen wir nie etwas hören. Woran liegt das?
Konflikte werden von uns wahrgenommen,
wenn sie einen direkten Bezug zu uns haben oder wenn die Weltmächte involviert
sind. Andernfalls gehen sie bei uns vergessen, auch von den Medien.
Ein
Beispiel?
Ein Beispiel ist Südsudan, dort
starben Menschen in Massen. Oder die aktuelle Situation in Jemen; eine
Katastrophe, was sich dort ereignet. Es gibt vergessene Konflikte in Indien
oder in Südamerika. Oder schauen Sie, was die Chinesen mit den Tibetern machen
– und niemanden interessiert es. Da gibt es stillschweigende Abkommen zwischen
den Supermächten, nach dem Motto: Du schweigst zu meinem Konflikt, ich schweige
zu deinem.