Willy Oggier: Der Blick fürs Wesentliche im Gesundheitswesen fehlt
Es wurde immer wieder die Frage gestellt, warum die Schweiz so spät und zu so wenig Impfstoffen gekommen sei. Die Gründe seien systembedingt, sagt Willy Oggier.
Das Wichtigste in Kürze
- Willy Oggier gehört zu den führenden Gesundheitsökonomen der Schweiz.
- Er ist Inhaber der Firma Willy Oggier Gesundheitsökonomische Beratungen AG.
- Auf Nau.ch schreibt Oggier einen Gastbeitrag über die späten Impfungen in der Schweiz.
Impfungen sind eine Aufgabe der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Doch ein eigentliches Gesundheitsgesetz kennt die Schweiz nicht.
Gesundheitspolitik wird schwergewichtig über das Krankenversicherungsgesetz (KVG) gemacht. Gesundheitspolitische Massnahmen werden daher vor allem über Instrumente beurteilt, die das KVG zur Verfügung stellt.
Health-Technology-Assessment-(HTA)-Verfahren
Der Bund hat beispielsweise ein Health-Technology-Assessment-(HTA)-Verfahren zur Re-Evaluation von Leistungen, welche von der obligatorischen Krankenversicherung vergütet werden, lanciert.
HTA ist eigentlich keine wissenschaftliche Disziplin, sondern umfasst ein breites Methoden-Spektrum, das die aus verschiedenen Blickwinkeln erstellten Analysen zu einem Thema identifiziert.
Dabei werden Aspekte wie Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten aus sozialer, rechtlicher, ethischer und organisatorischer Sicht untersucht.
HTA kann methodisch als Annäherung an die Versorgungsforschung verstanden werden: multidisziplinär, multiperspektivisch, multiprofessionell.
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Die verwendete Methodik wird im Voraus festgelegt. Dabei stellen sich u. a. folgende Fragen: Welche Perspektive wird verfolgt: jene des Gesamt-Systems oder «nur» der Sozialversicherungen? Welche Wirksamkeits- und Nutzen-Dimensionen werden eingeschlossen (und welche gerade nicht)?
Werden nur einzelne Behandlungsmethoden oder auch komplexe Verfahren/Interventionen analysiert? Wer ist Auftraggeber und Nutzerkreis der HTA?
Einschränkung HTA durch Krankenversicherungsgesetz (KVG)
Der gewählte schweizerische HTA-Ansatz ist zu stark auf das KVG eingeschränkt. Warum wir in der Schweiz – im Gegensatz zu Europa – keine Notfall-Zulassung für Impfungen haben, wurde nie untersucht.
Dabei zeigt die aktuelle Lage, dass sich dies hätte auszahlen können. Der Blick ist in der Regel auf die Kosten des KVG, also Heilungskosten, gerichtet.
Unberücksichtigt bleiben volkswirtschaftliche Aspekte wie höhere Wertschöpfung durch frühere Rückkehr an den Arbeitsplatz oder geringere Opportunitätskosten durch frühere soziale Wiedereingliederung.
Untersucht werden vor allem einzelne Behandlungsmethoden, schwergewichtige Medikamente. Dabei weisen diese bereits seit Längerem über bewährte Ansätze zur Zulassung zur sozialen Krankenversicherung auf. Es erstaunt daher nicht, dass auch das öffentliche Gut Impfen mit seinen positiven Effekten bzgl. der Schutzwirkung auf Dritte zu kurz kommt.
Doppelrolle des BAG
Hinzu kommt: HTA-Auftraggeber ist in der Regel das Bundesamt für Gesundheit (BAG), das für die Prämiengenehmigung und Kostenminimierung zuständig ist.
Aus Corporate-Governance-Sicht ergeben sich als Folge dieser Doppelrolle Zweifel an der Unabhängigkeit des BAG. Es erstaunt daher nicht, dass andere Akteure im Gesundheitswesen sich zu wenig in den Prozess einbezogen fühlen und diesen als intransparent kritisieren.
HTAs müssen in der Schweiz breiter aufgestellt werden. Der Kostenfokus ist um andere Sichtweisen zu ergänzen. Wirtschaftlichkeit ohne Wirksamkeit ist nicht sinnvoll. Public-Health-Aspekte sind stärker zu gewichten, sonst wird auch die nächste Epidemie oder Pandemie nicht besser zu bewältigen sein.
Die wichtigsten Anspruchsgruppen, insbesondere Patienten und Versicherte, sind im Rahmen transparenter Auswahl- und Auftragsprozesse stärker einzubeziehen. Dazu gehört, wie beispielsweise in Grossbritannien, eine organisatorisch vom BAG unabhängige HTA-Institution.
Es braucht HTA-Re-Start in der Schweiz
Eine Beschränkung von HTA auf Kostenminimierung vermag nicht zu genügen, weil es dabei per Definition nicht mehr um HTA gehen kann. Entwickelt werden müssen klare Kriterien für die Auswahl der Untersuchungsgegenstände. Diese darf weder einseitig in Amtsstuben noch allein durch Leistungserbringer, Industrie, Versicherer oder andere Akteure erfolgen.
Basis dafür sollte ein Expertenbericht über die zukünftige Ausgestaltung von HTA in der Schweiz unter Berücksichtigung internationaler Best-Practice-Beispiele und der Pandemie-Erfahrungen bilden. Die Schweiz braucht einen HTA-Re-Start.
Zur Person: Willy Oggier (Dr. oec. HSG) hat an der Hochschule St.Gallen Volkswirtschaftslehre studiert und auf diesem Gebiet auch doktoriert. Nach einigen Jahren Tätigkeit an der Hochschule St. Gallen hat er sich 1996 selbstständig gemacht. Er ist Inhaber der Firma Willy Oggier Gesundheitsökonomische Beratungen AG und gehört zu den führenden Gesundheitsökonomen der Schweiz.