Suher Serieh ist mit ihrer Familie aus Syrien in die Schweiz geflohen. Sie hat Heimweh. Ihr jüngster Sohn dagegen erinnert sich kaum noch an die alte Heimat.

Wenn in den Nachrichten von Schusswechseln oder Bombenanschlägen auf Damaskus (SYR) berichtet wird, bleibt Suher Serieh das Herz stehen. Genau so, wie an jenem Tag, an dem sie sich von ihrer Mutter, ihrem Vater, den Geschwistern, Schwiegereltern und Freunden verabschiedet hat, um in ein Flugzeug zu steigen und den Krieg, die Angst, die Ausweglosigkeit – und ihr Daheim – hinter sich zu lassen.

Suhers Traum

Eine syrische Flüchtlingsfamilie flieht von Damaskus in die Berner Alpen. Der Kulturschock ist gross - auf beiden Seiten.
Eine syrische Flüchtlingsfamilie flieht von Damaskus in die Berner Alpen. Der Kulturschock ist gross - auf beiden Seiten. - Keystone / Nau.ch

Wer Schuld hat? «Alle», sagt Suher leise. Syrien, dass den Krieg angezettelt habe, aber auch der Westen mit seinen Waffenlieferungen und seinen ständigen Einmischungen. «Was wollen die Leute, die sich in unseren Krieg einmischen: Geld? Öl? Macht? Sie sollen Syrien in Ruhe lassen. Die Menschen in Syrien haben ein Problem. Darum gibt es Krieg. Aber es ist ihr Land und ihr Leben und man soll sie diesen Konflikt alleine lösen lassen.»

Früher hatten die Kinder jeden Tag Heimweh. «Jetzt sind sie angekommen», sagt Suher. Noor, ihr Jüngster, lebt länger in der Schweiz, als in Syrien. Die Bilder von Damaskus werden in seinem Kopf längst überlagert von den Schweizer Bergen, dem Thunersee und den Gesichtern seiner Mitschüler.

Suher ist dankbar für die Schweizer Heimatgefühle ihres Nachwuchses - und manchmal auch traurig darüber: Je länger die Kinder in der Schweiz leben, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals wieder mit zurückkommen.

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Das Wichtigste in Kürze

  • 2013 floh die Familie Serieh mit vier Kindern von Damaskus (SYR) in die Schweiz.
  • Nau berichtet in einer sechsteilige Serie über das Schicksal der Familie.
  • Teil VI: Die Eltern haben Heimweh, die Kinder sind in der Schweiz daheim.

Warum tut Schneider-Ammann das?

Zwei Jahre vor der Flucht hat die Familie Serieh in Damaskus ein Haus gekauft. Jetzt ist alles ausgebrannt, berichtet die Familie aus Syrien.
Zwei Jahre vor der Flucht hat die Familie Serieh in Damaskus ein Haus gekauft. Jetzt ist alles ausgebrannt, berichtet die Familie aus Syrien. - Keystone

Der Krieg, davon ist Suher überzeugt, wäre längst vorbei, hätte nicht die halbe Welt das Gefühl, ein Wörtchen mitreden zu müssen. «Sie meinen es gut, manche jedenfalls, aber sie tun das Falsche.»

Suher mit Noor (9, links) und Zuher (10), ihren beiden Jüngsten. Die Tochter (17) macht gerade ein Praktikum in Beatenberg. Der Sohn (18) eine Lehre zum Automechaniker.
Suher mit Noor (9, links) und Zuher (10), ihren beiden Jüngsten. Die Tochter (17) macht gerade ein Praktikum in Beatenberg. Der Sohn (18) eine Lehre zum Automechaniker. - Nau.ch

Dass Bundesrat Johann Schneider-Ammann Waffen in Konfliktgebiete liefern will scheint ihr unglaublich. «Warum? Damit der Krieg noch weitere acht Jahre dauert?» Dann schüttelt sie den Kopf. Hadern bringt nichts. «Ich kann die Politik in und um Syrien nicht verstehen.»

Die Gebrüder Löwenherz

Zuher (10) und Noor (9), bei der Ankunft noch kleine Kinder, sitzen jetzt auf dem Sofa und plaudern. Kramen Bücher hervor, die sie gerade lesen. «Ronja Räubertochter ist mein liebstes Lieblingsbuch», erklärt Noor. Das selber gefilzte Lesezeichen steckt bereits ganz hinten im Buch.

Die ganze Geschichte der syrischen Flüchtlingsfamilie Serieh

1. Von Damaskus in die Berner Alpen – Die Familie Serie flieht aus Syrien
2. «Schmarotzer, ihr wollt doch nur unser Geld» – Beleidigungen auf dem Pausenplatz
3. «Habt ihr keine Schweizer gefunden?» – Wohnungssuche in der Schweiz
4. «Dürft ihr überhaupt arbeiten?» – (K)eine Zukunft mit Ausweis F
5. Muslimischer Patriarch oder Gentleman? – Schweizerisch-Syrische Differenzen
6. Schuldzuweisung und Heimweh – Wer trägt die Verantwortung am Krieg? Und wo ist «daheim»?

Angekommen

Juni 2018, Berner Oberland. Die Tür quietscht. Noor (9) und Zuher (10) sind vom Fussballspielen zurück: «Zu heiss draussen», stöhnen die Jungs. Beide sind im WM-Fieber. «Brasilien gewinnt», ruft Noor überzeugt. Zuher schüttelt den Kopf. «Ich bin für Argentinien», sagt er, «und Mama hilft der Schweiz». Er verdreht die Augen: «Dabei wissen doch alle, dass wir es maximal ins Viertelfinale schaffen.»

«An diesem Tag war ich tot», sagt Suher, «innerlich tot». Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer und trinken Kaffee mit Kardamom. Draussen brennt die Sonne fast so heiss auf den Asphalt, wie in Syrien.

Zuher mag lieber die Gebrüder Löwenherz «und alles, was von Rittern und Drachen, Magie und Abenteuer handelt.» Dann verschwinden die beiden nach draussen: «Chli go schuttä.», klingt es aus dem Treppenhaus, dann fällt die Tür ins Schloss.

Fünf Jahre sind vergangen, seit die Familie Serieh sich von ihrer Heimat verabschiedet hat. Für immer - vielleicht.

Zurück nach Syrien, nach Hause. Ist das Suhers Traum? Sie schaut auf ihre Hände. «Meine Familie ist dort. Meine Kindheit war dort. Syrien ist mein Daheim.» Aber auch sie kommt hier an. Suhers Traum? «Hier leben und arbeiten, keine Sozialhilfe mehr bekommen und wenn der Krieg endlich fertig ist nach Damaskus reisen und meine Familie besuchen.» Sie einfach mal wieder in die Arme schliessen, diese Menschen, die bis vor fünf Jahren ihre ganze Welt waren.

Der Westen soll sich nicht einmischen

Suher hat syrischen Kaffee gekocht. Dieser kommt mit Satz und Kardamom daher und schmeckt nach Ferne.
Suher hat syrischen Kaffee gekocht. Dieser kommt mit Satz und Kardamom daher und schmeckt nach Ferne. - Nau.ch

Doch nicht alle Menschen, die Suher in Syrien zurückgelassen hat, würde sei wieder in die Arme schliessen können. Denn nicht mehr alle sind am Leben. Auch das Haus, das Suher und ihr Mann zwei Jahre vor der Flucht gekauft haben, ist abgebrannt. «Fast acht Jahre Krieg», sagt Suher leise, «das zerstört mehr als nur die Häuser. Das macht das ganze Land kaputt».

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