So reagieren die Bundesbehörden auf den Unterschriften-Bschiss
Kommerzielle Unternehmen sollen beim Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen betrogen haben. Es geht um gefälschte Unterschriften und um Organisationen, die ohne Auftrag gesammelt und Komitees zum Kauf von Unterschriften gedrängt haben sollen. Ein Überblick:
Was ist geschehen?
Tamedia-Recherchen deckten Anfang September auf, dass mutmasslich Tausende Unterschriftendaten für Volksinitiativen gefälscht worden sind. Gut eine Woche nach den ersten Berichten erhielt die Affäre einen neuen Dreh: Laut der Bundeskanzlei sollen gewisse Organisationen, die für Geld Unterschriften sammeln, dies ohne Auftrag getan und Komitees zum Kauf dieser nicht bestellten Unterschriften gedrängt haben.
Wie gross ist das Ausmass der Affäre?
Das kann noch nicht abschliessend beurteilt werden. Verschiedene Strafuntersuchungen der Bundesanwaltschaft laufen. Aus heutiger Sicht liegen laut der Bundeskanzlei jedoch keine belastbaren Indizien vor für die Vermutung, dass über Vorlagen abgestimmt wurde, die nicht rechtmässig zustande gekommen sind. «Bisher hat sich keine einzige für gültig erklärte Unterschrift nachträglich als gefälscht herausgestellt», sagt Bundeskanzler Viktor Rossi.
Ergreift der Bundesrat Notfallmassnahmen?
Nein. Der Bundesrat verzichtet nach dem Bekanntwerden von mutmasslichen Betrugsfällen auf drastische notrechtliche Massnahmen. Laufende Unterschriftensammlungen sollen wie geplant weiterlaufen. Auch Nachkontrollen der Unterschriften für Volksbegehren, die zustande gekommen, aber noch nicht zur Abstimmung gelangt sind, sind nicht vorgesehen.
Weshalb diese Zurückhaltung?
Den Behörden fehlten die rechtlichen Grundlagen sowohl für die Sistierung der Behandlung von Volksinitiativen als auch für die Nachkontrolle von Unterschriften, schreibt die Landesregierung. «Die Bedingungen, um per Notrecht entsprechende Grundlagen zu schaffen, sind nicht erfüllt.» Nachkontrollen wären den Angaben der Landesregierung zufolge zudem staatspolitisch problematisch, weil sie den von gesetzlichen Fristen getakteten Behandlungsprozess der aktuell hängigen Volksinitiativen stark verzögern und infrage stellen würden. «Es ist ein Entscheid nach der Devise: Im Zweifel für die Volksrechte», sagt Bundeskanzler Rossi.
Geschieht also nichts?
Doch. Der Bundesrat will den unlauteren Praktiken bei Unterschriftensammlungen für Volksbegehren stattdessen mit strafrechtlicher Verfolgung, Prävention sowie Verbesserung der Abläufe entgegentreten, wie er schreibt. Im Rahmen ihrer Aufgaben bei der Auszählung der Unterschriften führt die Bundeskanzlei beispielsweise verstärkte Kontrollen durch. Ab sofort unterzieht sie die Listen aus allen Kantonen einer vertieften Prüfung. Es gilt neu das Vieraugenprinzip.
Was ist in den nächsten Wochen geplant?
Die Bundeskanzlei wird demnächst einen Runden Tisch einberufen. Die an den Unterschriftensammlungen und -kontrollen beteiligten Parteien, Verbände, Komitees, Sammelorganisationen und Behörden sollen die derzeitigen Prozesse analysieren und mögliche Massnahmen zur Vermeidung von Missbrauch konkretisieren. Bundeskanzler Rossi schweben Sammel- und Transparenzregeln vor, eine «verbindlich vereinbarte Selbstregulierung». Gleichzeitig solle es einfach und unkompliziert bleiben, Unterschriften zu sammeln. «Alles andere wäre systemfremd.»
Was soll mittel- und langfristig geschehen?
Laut dem Bundesrat soll beispielsweise die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft gesucht werden, um die Möglichkeit technischer Lösungen zu prüfen, die Unterschriftensammlungen besser gegen Missbrauch und Betrug schützen könnten. Noch in diesem Jahr wird die Landesregierung einen Bericht zu E-Collecting, also dem digitalen Unterschriftensammeln, publizieren. Laut Bundeskanzler Rossi soll der bisher geltende Sammelprozess nicht verschwinden, aber es sollen weitere Wege für Unterschriftensammlungen aufgezeigt werden.
Braucht es neue Gesetze?
Das werden der Bundesrat und das Parlament entscheiden müssen. Laut Bundeskanzler Rossi muss zuerst die Wirkung der getroffenen und noch geplanten sonstigen Massnahmen abgewartet werden. «Falls diese nicht greifen, müssen wir den Prozess des Unterschriftensammelns gesetzlich robuster machen.» Gleichzeitig warnt er davor, ein «Bürokratiemonster» zu schaffen.
Was ist die Rolle der Bundeskanzlei?
Gemäss eigenen Angaben geht die Bundeskanzlei «seit einigen Jahren» gegen mögliche Unterschriftenfälschungen vor. Sie hat im Jahr 2022 Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht und diese Anzeige mehrfach um neue Verdachtsfälle ergänzt. Sie bereitet derzeit eine zweite Strafanzeige vor.
Weshalb steht die Bundeskanzlei in der Kritik?
Die Mitglieder der zuständigen Parlamentskommissionen und die Öffentlichkeit haben erst über die Medien vom mutmasslichen Unterschriftenbetrug erfahren. Die Bundeskanzlei habe von Unregelmässigkeiten gewusst, aber weder sie noch der Bundesrat hätten darüber aktiv kommuniziert, lautet die Kritik. Bundeskanzler Rossi räumt inzwischen ein, dass die Bundeskanzlei die Öffentlichkeit aktiver über die mutmasslich gefälschten Unterschriften hätte informieren müssen.
Seit wann wusste der Bundesrat von den Unregelmässigkeiten?
Laut Bundeskanzler Rossi wurde der Bundesrat erst im August 2023 informiert, also ein Jahr nach Einreichung der Strafanzeige durch die Bundeskanzlei. Weshalb dies erst dann geschehen ist, konnte Rossi nicht sagen.
Was tut das Parlament?
Mit der Rolle der Bundeskanzlei befassen sich die von der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (GPK-S) eingeleiteten Abklärungen. Sie will wissen, ob und wie die Bundeskanzlei ihre Aufgabe wahrgenommen hat. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) wiederum hat die Geschäftsprüfungskommission der grossen Kammer eingeladen, den Unterschriften-Bschiss genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie diskutierte auch über Anträge für Gesetzesänderungen, lehnte diese aber vorerst ab. Zunächst sollten die verschiedenen Untersuchungen abgewartet werden.