Änderung bei Initiativen: Tausende Unterschriften plötzlich ungültig

Matthias Bärlocher
Matthias Bärlocher

Bern,

Bislang war die Bundeskanzlei kulant, neu müssen auch Name und Adresse eigenhändig eingetragen sein. Informiert wurde aber offenbar niemand.

Unterschriften
Beim Unterschriftensammeln gelten plötzlich andere Regeln für die Gültigkeit. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Bundeskanzlei schaut neu bei der Überprüfung von Unterschriftsammlungen genauer hin.
  • Auch Name und Adresse müssen nun eigenhändig eingetragen sein.
  • Initiativkomitees rechnen mit Tausenden ungültigen Unterschriften: «Ein Fiasko.»

Die Bundeskanzlei hat – zunächst unbemerkt – ihre Praxis bei der Überprüfung von Unterschriften für Volksbegehren verschärft. Aktiv informiert wurde offenbar nicht: «Wir haben bemerkt, dass plötzlich viel mehr Unterschriften als ungültig taxiert wurden«, sagt Linda Rosenkranz vom Mieterverband gegenüber Tamedia. Beim Komitee für die Mietpreisinitiative und bei anderen Initiativkomitees ist man empört und spricht von einem «Fiasko».

Jahrelang geduldet – plötzlich ist alles anders

Streng genommen hat sich nichts geändert, aber eine bestehende Vorschrift wird nun strikt angewandt. Jede Person muss auf Unterschriftenbögen eigenhändig ihren Vor- und Nachnamen eintragen und unterschreiben.

Werden Unterschriften für Initiativen ausreichend geprüft?

Bislang war man bei der Bundeskanzlei aber kulant gegenüber Ehepaaren, Familien mit volljährigen Kindern oder WGs. Wenn eine Person alle Angaben ausfüllte und dann die anderen unterschreiben liess, liess man dies als «gültig» durch.

Verschärfte Regeln treffen Sammler hart

Die Praxisänderung mitten im Sammelstadium bedeutet: Initiativen müssen nun viele zusätzliche Unterschriften sammeln, um bei der Einreichung auf der sicheren Seite zu sein. Über ein Dutzend laufender Volksbegehren soll betroffen sein.

Einreichung der Unterschriften für das Referendum "Stopp Autobahn-Bauwahn, Nein zum masslosen Autobahn-Ausbau", am 11. Januar 2024. - keystone

Die Bundeskanzlei hat im Oktober alle Gemeinden angewiesen, die gesetzlichen Vorgaben streng anzuwenden. Die Sammelnden wie auch die Stimmberechtigten wurden nicht über diese Verschärfung informiert.

Kulanz bei Profi-Sammlern?

Besonders brisant sei aber der nun publik gemachte Fall, sagt Daniel Graf von der Stiftung für direkte Demokratie. Es geht um Unterschriften der der Zürcher Firma «Sammelplatz». Graf hat selbst schon mehrere Initiativen mit-lanciert und zuletzt die Ja-Kampagne für die E-ID koordiniert.

Wenige Wochen vor der Praxisänderung erklärte die Bundeskanzlei Unterschriften von «Sammelplatz» für gültig. Dies, obwohl ein kommerzieller Tessiner Sammler zahlreiche Angaben wie Vor- und Nachnamen selbst ausgefüllt hatte.

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Daniel Graf ist Mitgründer der Stiftung Direkte Demokratie und der Plattform WeCollect. - Keystone

Graf mutmasst in einem offenen Brief an Bundeskanzler Viktor Rossi, es gebe wohl doch noch Spielraum: «Es stellt sich deshalb die Frage, wie die Bundeskanzlei den Bürgerinnen und Bürgern erklären will, dass sie den Fall eines kommerziellen Sammlers mit Hunderten von Unterschriften grosszügig auslegt. Bei Familien mit zwei oder drei Unterschriften am Küchentisch jedoch nicht?»

Tausende Unterschriften betroffen

In Stichproben habe man festgestellt, dass zwischen fünf und 15 Prozent der Unterschriften betroffen seien, schreibt Graf weiter. «Wenn wir das hochrechnen auf nationale Volksinitiativen und Referenden, dann könnten in den nächsten Monaten Zehntausende gültige Willensbekundungen gestrichen werden.»

Dominik Waser von der Lebensmittelschutzinitiative bestätigt diese Werte. Er schätzt, dass aufgrund des Eingreifens der Bundeskanzlei zusätzlich etwa fünf Prozent der gesammelten Unterschriften für ungültig erklärt werden.

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Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser von der Universität Zürich kritisiert die bisherige Praxis, genau so aber auch die plötzliche Änderung der Regeln. - Uni Zürich

Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser von der Universität Zürich fand zwar die bisherige Praxis auch etwas schleierhaft. Aber sie sei jahrelang geduldet worden: «Deshalb kann sie jetzt nicht Knall auf Fall geändert werden», sagt er gegenüber Tamedia.

Kritik an mangelnder Kommunikation

Im offenen Brief an Bundeskanzler Viktor Rossi stellt Daniel Graf fünf Forderungen auf. Darunter ist auch ein «Marschhalt und Übergangsregelung» von mindestens einem Jahr.

Die Verschärfung der Unterschriftenprüfung ist eine indirekte Folge des sogenannten «Unterschriften-Bschiss». Dabei geht es jedoch um gefälschte Unterschriften von Sammelfirmen.

Nun werde das echte Problem aber nicht adressiert, kritisiert die Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone, die im Komitee der Solarinitiative sitzt. «Von der neuen Praxis sind vor allem jene betroffen, die wie die Grünen keine Unterschriften kaufen.» Dominik Waser von der Lebensmittelschutzinitiative spricht von einem «demokratiepolitischen Fiasko».

Kommentare

User #3437 (nicht angemeldet)

Wurmt das die SVP?

User #5561 (nicht angemeldet)

Die Bundeskanzlei bewegt sich langsam bevor wir Ihr den Stecker ziehen müssen.

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