Unter massivem Druck musste das renommierte russische Sacharow-Zentrum schliessen. Auf engstem Raum arbeiten die verbliebenen Menschenrechtler aber weiter.
Kisten stapeln sich im Flur des gezwungenermassen in eine kleine Wohnung umgezogenen Moskauer Sacharow-Archivs.
Kisten stapeln sich im Flur des gezwungenermassen in eine kleine Wohnung umgezogenen Moskauer Sacharow-Archivs. - Hanna Wagner/dpa
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Das Wichtigste in Kürze

  • In Russland haben Menschenrechtler zunehmend einen schweren Stand.
  • Sinnbildlich steht dafür das renommierte Sacharow-Archiv.
  • Seit der Schliessung arbeiten die verbliebenen Menschenrechtler in einer Wohnung weiter.

Die Luft für Russlands Menschenrechtler wird immer dünner – und dieser kleine Ort steht geradezu sinnbildlich dafür: das international bekannte Sacharow-Archiv, seit kurzem eingepfercht in eine Zwei-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock eines Moskauer Hochhauses.

Im Flur stapeln sich Kisten mit Briefen, Dokumenten und Fotos, in den Räumen Bücher, eingerahmte Bilder, zwischendrin auseinander gebaute Möbel. Noch vor einigen Wochen war all das in der Nachbarwohnung – dem einstigen Heim des berühmten sowjetischen Bürgerrechtlers Andrej Sacharow – für die Öffentlichkeit als Museum zugänglich.

Doch im Januar verkündete die Moskauer Stadtverwaltung, dem bereits als «ausländischen Agenten» gebrandmarkten Sacharow-Zentrum sämtliche bislang zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zu entziehen. Ausstellungen, Lesungen und all die kritische Öffentlichkeitsarbeit, für die das Zentrum geschätzt wurde, sind nun nicht mehr möglich.

«Wir können unter den heutigen Umständen die Arbeit des Zentrums nicht fortsetzen, ohne diejenigen in Gefahr zu bringen, die dort agieren», sagte der mittlerweile in Deutschland lebende Leiter Sergej Lukaschewski kürzlich in einem Interview der «3sat Kulturzeit».

Rettung von Sacharows Nachlass

Zumindest der wertvolle und umfangreiche Nachlass von Sacharow, der heute 101 Jahre alt wäre, sowie seiner ebenfalls verstorbenen Ehefrau Jelena Bonner aber sollte gerettet werden. Und so verfrachteten die verbliebenen Mitarbeiter alle Materialien kurzerhand in die kleine Nachbarwohnung, die als einzige Immobilie nicht der Stadt Moskau, sondern ihnen selbst gehört.

Nun also sind die Archivare hier – quasi mitten in einer grossen Rumpelkammer. «Nichts findet man mehr», seufzt Jekaterina Schichanowitsch und wühlt in einer Dokumentenkiste. Die 66-Jährige ist seit der Gründung des Archivs Mitte der 1990er-Jahre hier angestellt.

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Boris Jelzin war bis 1999 Präsident von Russland. Von da an übernahm Wladimir Putin die Geschicke des Landes. - Keystone

Sie hat den Ort bereits unter Russlands erstem Präsidenten Boris Jelzin erlebt, war Zeugin einer Öffnung ihres Landes Richtung Westen – und nun seiner erneuten Abschottung. Schichanowitsch trägt ein blau-geblümtes Kleid und mit ihrer zierlichen Statur verschwindet sie bisweilen regelrecht in den deckenhohen Kistentürmen.

«Das, was uns gerade passiert, ist letztendlich nur ein Resultat dessen, was gerade im ganzen Land geschieht», sagt sie. Ihre Stimme ist leise, sie wirkt schwermütig. Spätestens seit Beginn des von Kremlchef Wladimir Putin vor mehr als einem Jahr angeordneten Angriffskriegs gegen die Ukraine nämlich gehen Russlands Behörden mit grosser Härte gegen unabhängige Organisationen, Oppositionelle und jegliche kritische Köpfe vor.

Die im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsorganisation Memorial etwa ist in Russland sogar verboten. «So etwas ist wirklich keine Überraschung mehr. Aber trotzdem jedes Mal ein kleiner Schock», sagt Schichanowitsch.

Dokumente in über 190 Kartons

Im Zimmer nebenan dudelt leise ein kleiner Lautsprecher vor sich hin, Schichanowitschs Kollege Andrej Bachmin hat Barockmusik angemacht. Bachmin und der freiwillig aushelfende Student Nikita Solotarjow scannen Dokumente ein. Die Digitalisierung ihrer Materialien haben sich Archivare auf der ganzen Welt zur Aufgabe gemacht. Hier aber ist es im Zweifel auch ein Wettlauf gegen die Zeit, falls staatliche Sanktionen auch diesen Ort treffen sollten.

Wie viele Dokumente sie vor sich haben, weiss Bachmin nicht ganz genau. Auf jeden Fall seien es mehr als 190 Kartons, sagt er. Irgendwann haben sie aufgehört zu zählen, wie viele davon sie schon in ihr digitales Archiv übertragen haben. Stattdessen scannen Bachmin und Solotarjow einfach weiter, Seite um Seite, Stunde um Stunde. Es sind chaotische Zeiten in Russland, in vieler Hinsicht.

Das Sacharow-Zentrum, das unter anderem Ausstellungen organisierte, und das Archiv sind juristisch gesehen zwei getrennte Organisationen. Bachmin hat deshalb die Hoffnung, dass das Archiv – auch, weil es nicht explizit politisch in Erscheinung tritt – von behördlichen Einschränkungen verschont bleiben wird. «Aber das Risiko existiert natürlich.» Ob er Angst habe? «Nein», sagt der 51-Jährige, ohne lange nachzudenken. «Wenn man Angst hat, kann man sich auch gleich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen.»

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