Deutsch-französischer Mittler – Alfred Grosser gestorben
Alfred Grosser hat das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich über 50 Jahre lang analysiert. Kurz nach seinem 99. Geburtstag verstarb er in Paris.

Er hat die Höhepunkte miterlebt: den Élysée-Vertrag zwischen Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer 1963, den historischen Händedruck von Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl 1984 in Verdun. Aber auch die Dissonanzen hat er verfolgt.
Über 50 Jahre beobachtete und analysierte Alfred Grosser das deutsch-französische Verhältnis. Nun ist der Politologe, Publizist und Spezialist für deutsch-französische Fragen wenige Tage nach seinem 99. Geburtstag am Mittwoch in Paris gestorben.
Grosser hatte sich die deutsch-französische Verständigung zu seiner Lebensaufgabe gemacht. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen hat der in Deutschland geborene und nach Frankreich ausgewanderte Intellektuelle gegen Klischees gekämpft. Er hat versucht, den Franzosen Deutschland zu erklären und den Deutschen Frankreich. Er war Beobachter, Berater und Vermittler. Sein Credo: Mit Wärme und Vernunft aufklären.
Der Akademiker mit jüdischen Wurzeln hat nicht nur Politiker beider Länder getroffen, sondern auch zahlreiche Schulklassen besucht, denn für den Politologen war das Deutsch-Französische Jugendwerk das «schönste Kind des Élysée-Vertrags». Es wurde im Juli 1963 gegründet und ging aus dem wenige Monate zuvor, am 22. Januar 1963, unterschriebenen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag hervor, der als Meilenstein in der Aussöhnung der einst verfeindeten Länder gilt.
Die deutsch-französischen Beziehungen sah er nüchtern
Grosser war kein Leisetreter. Mit viel Distanz beobachtete er das deutsch-französische Verhältnis. So sei es de Gaulle 1963 bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags nicht in erster Linie um Annäherung gegangen, sondern darum, Westdeutschland mit dem Vertrag aus dem Machtbereich der USA herauszuholen.
Mit viel Nüchternheit sah er die Beziehungen auch Jahrzehnte später. In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur in Paris zu seinem 95. Geburtstag erklärte er, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich keine zentrale Rolle mehr spielen würden. Seine Begründung: Es gebe andere, neue Fragen, die wichtiger geworden seien. Dazu gehörten seiner Meinung nach die Beziehungen zu den USA und zu China.
Der Intellektuelle nahm kein Blatt vor den Mund, gleich um welches Thema es ging. Sein Nein zum EU-Beitritt der Türkei war kategorisch: «Die Schweiz hat alle Vorteile ohne Nachteile. Und das will die Türkei auch, jedoch ohne politische Mitverantwortung», wie er sagte. Den Solidaritätsmarsch nach den Anschlägen auf die Pariser Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» im Januar 2015 nannte er eine Heuchlerparade. Er habe es als lächerlich empfunden, dass an der Anti-Terror-Grossdemonstration für Pressefreiheit Politiker aus Ankara und Moskau teilgenommen hätten.
Unterstützte Günter Grass bei Israel-Kritik
In der heissen Debatte um die Israel-Kritik von Günter Grass und dessen politisches Gedicht «Was gesagt werden muss» aus dem Jahr 2012 stellte er sich auf die Seite des 2015 verstorbenen deutschen Schriftstellers. In dem Gedicht hatte Grass Deutschland aufgefordert, keine U-Boote mehr an Israel zu liefern, weil sonst das iranische Volk ausgelöscht werden könnte. Die israelische Regierung provoziere, meinte Grosser damals und unterstützte den Literaturnobelpreisträger.
Als Antisemit wurde Grosser spätestens seit seinem 2009 erschienenen Buch «Von Auschwitz nach Jerusalem» beschimpft. In dem Werk erklärte er den Deutschen, warum sie kritischer mit Israel umgehen sollen. Nur wenige Denker vertraten so konsequent ihre Überzeugungen. Doch für Grosser gab es keine Aufklärung ohne Kritik. Damals, als Frankreich in Algerien folterte und Dörfer zerstörte, habe er mit derselben Schärfe, mit der er heute Israel kritisiere, die Franzosen verurteilt, legte er seine Meinung dar.
Ein Blick auf seine Biografie mag helfen, seine kritische Haltung zu erklären. Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren und emigrierte mit seiner Familie 1933 nach Frankreich, wo er vier Jahre später die französische Staatsangehörigkeit erhielt. Knapp fünf Jahre später konvertierte er zum Katholizismus.
Der deutsch-französische Publizist studierte in Paris Politikwissenschaft und Germanistik. Ab 1955 lehrte er am renommierten Institut d’études politiques de Paris und schrieb für zahlreiche Zeitungen politische Kolumnen. Zu seinem Verhältnis zu Deutschland und Frankreich hat er einmal gesagt: In Frankreich gehöre er dazu, Deutschland begleite er von aussen.