Eine lyrische Reise quer durch Europa: Die Gedichte in «Neue staubige Tage/Nuovi giorni di polvere» erzählen von Entwurzelung und dem krisengeschüttelten 20. Jahrhundert. Geschrieben hat sie der knapp 40-jährige Tessiner Yari Bernasconi. Ein Gespräch.
Yari Bernasconi
Der Tessiner Schriftsteller Yari Bernasconi posiert am Dienstag, 15. Juni 2021, in Bern. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Gedichte unter dem Titel «Neue staubige Tage/Nuovi giorni di polvere» nehmen die Leserin, den Leser mit auf eine Reise von Estland nach Italien, von Irland über Frankreich in die Schweiz.

Und meist stehen verlassene Gegenden und deren Ruinen im Zentrum: Mauern, Schutt und Staub vergangener Tage.

Bernasconi wurde 1982 im Lugano geboren und ist als Sohn einer italienischen Mutter und eines Vaters, der halb Italiener und halb Berner ist, im Tessin aufgewachsen; heute lebt er in der Nähe von Bern. Er betrachtet sich selbst als «klassischen Sohn von Migranten, der fernab von Stereotypen aufgewachsen ist», wie er im Gespräch mit Keystone-SDA sagt. Dieses «Vermächtnis» habe ihn dazu veranlasst, im gesamten Buch und insbesondere im letzten Zyklus «Wenn wir gehen/Se camminiamo» über seine Identität nachzudenken.

«Neue staubige Tage» soll also nicht bloss eine Gedichtsammlung sein, sondern auch eine Suche nach der eigenen Identität - die im Übrigen in all ihrer Melancholie der Leserin, dem Leser keine hohen Verständnishürden setzt. In «Du kennst das Meer/Conosci il mare», einem Gedicht, das Bernasconi der Heimat seiner Mutter gewidmet hat, schreibt er «Auch ich bin, ohne es zu wissen, ein Kind/dieser Erde. [...] /und einen flüchtigen Knoten spüre, ein Heimweh,/aber aus zweiter Hand.» Das lyrische Ich, das viel vom Autor hat, wird so zum Träger eines geerbten Identitätsgefühls.

Ein zentraler Ort, gar Beginn der lyrischen Reise, ist Dejevo, ein Dorf auf der Insel Saaremaa in Estland. Bernasconi liegt der Ort sehr am Herzen, weil er dort zum ersten Mal den Drang zu schreiben verspürt habe. «Brief aus Dejevo/ Lettera da Dejevo» bildet den Auftakt zur ganzen Sammlung. Das Gedicht handelt von viel Beton und Asphalt, was von einer Faszination für dieses Material zeugt.

Der Beton von Dejevo hat dabei eine Bedeutung, die über jene als Material von Mauern und Trümmern hinausgeht. Er birgt «die verwundeten Reste der Wut». Der Beton legt Zeugnis ab von einem Land, das kriegsversehrt ist: «Kaputt zurückgegeben,/ wie ein zerschlissener Fetzen, ein Herz,/ das siecht und doch schlägt.»

Neben Zement ist Staub allgegenwärtig in den Gedichten, als «eines der Materialien, das sich am stärksten in unser Leben einschleicht», sagt Bernasconi, sei es durch Umweltverschmutzung, Baustellen oder in Form von Vulkanasche wie im Kapitel «Der Feuerberg/La montagna di fuoco».

Bernasconi schreibt davon, einer sogenannten «mobilen Geografie» anzugehören, die es erlaube, sich an fernen Orten und in ungeahnten Momenten heimisch zu fühlen, wie es in «Warschauer Strasse» oder «Connemara» geschieht.

Aus dem Italienischen übersetzt hat die Gedichte die Österreicherin Julia Dengg. Vergleicht man ihre Übertragung mit dem Original, so zeigt sich, dass sie zu Gunsten der Bedeutung der Verse zuweilen vom Italienischen abweicht. Ein Beispiel ist «Il furgone», was eigentlich «Lieferwagen» bedeutet; Dengg übersetzt das Wort stimmig, im Titel wie im Text mit «Der Leichenwagen».

Bernasconi empfindet es als «den leuchtendsten und faszinierendsten Ausdruck der Literatur», wenn der Text durch die Übersetzung eine andere Richtung einschlägt. Das Buch «Neue staubige Tage/Nuovi giorni di polvere» bietet im Übrigen die Möglichkeit, derartige Abweichungen nachzuvollziehen: jeweils auf der linken Seite sind die Gedichte auf Italienisch abgedruckt, auf der rechten Seite deren deutsche Übersetzung.

Eine Besonderheit im Sprachstil Bernasconis ist, dass er häufig Negationen verwendet. «Manchmal haben wir nicht die Möglichkeit, etwas zu bejahen, aber wir wissen, was wir nicht wollen», sagt er und bezieht sich mit seiner Aussage auf den italienischen Literaturnobelpreisträger Eugenio Montale. Ein Beispiel dafür ist die letzte Zeile des Gedichts «Nächtliche Postkarte/Cartolina notturna» über den Suizid eines Mannes: «denselben Fluchtweg, dem wir nicht folgen werden».

Für das Genre der Lyrik hat sich Bernasconi übrigens entschieden, schlicht weil ihm die Eigenheiten dieser Form gefallen, weil sie berühre. «Vor allem fasziniert mich der weisse Raum, den die Lyrik bietet, das Unausgesprochene, das von den Leserinnen und Lesern ergänzt werden kann.» Mit dieser Aussage verrät er auch gleich seine Haltung zur Literatur generell: Bücher seien immer «unendlich viel interessanter als die Menschen, die sie geschrieben haben». «Es sind die Lesenden, die durch das Lesen und Interpretieren die Bücher zum Leben erwecken.»

Für seine Gedichte unter dem Titel «Nuovi giorni di polvere» (2015) wurde Bernasconi 2016 mit dem Terra Nova Preis der Schillerstiftung und 2015 mit dem Poesia Giovani Preis des Castello di Villalta ausgezeichnet. Nun liegen sie in einer zweisprachigen Ausgabe auch auf Deutsch vor, nachdem sie bereits 2018 ins Französische übersetzt wurden.

Was Lyrik ausmacht, drückt der Dichter, der auch als Kulturjournalist für das italienischsprachige Schweizer Radio arbeitet, zudem in seinem Werk aus. In «Nächtliche Postkarte Nr. 2 / Cartolina notturna n. 2» heisst es: «Es braucht keine grossen Worte: Da ist die Strasse,/nass. Wir folgen zusammen der Nacht./Schwer und stur, aber immer wild.

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