Der Pfarrer Oliver Merz leidet unter einer unheilbaren Krankheit. Er setzt sich mit seinem «Institut Inklusiv» für eine zugänglichere Gesellschaft ein.
Inklusion
Die Menschheit ist vielfältig. Doch wie gehen wir damit um? - zvg
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Vielfalt und Verschiedenheit bereichern unseren Alltag und fordern heraus. Immer mehr Einzelpersonen und Gruppen wollen dazugehören und gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilhaben.

Der promovierte Theologe und Berater Oliver Merz lebt mit einer unheilbaren Krankheit und weiss selbst, wie schwierig Inklusion sein kann.

«Seit ich mich erinnern kann, setze ich mich für Menschen ein, die benachteiligt und ausgegrenzt werden», sagt Oliver Merz, der mit seiner Familie in Thun wohnt. Er ist promovierter Theologe, war viele Jahre als Pfarrer tätig und gründete 2021 das «Institut Inklusiv».

Inklusion, Diversity und Partizipation sind Begriffe, die auch hierzulande immer häufiger mit sozialer Gerechtigkeit verbunden und verwendet werden.

Im Interview erzählt Merz, warum er sich trotz allen Widrigkeiten und der aktuellen Weltlage für eine inklusivere Welt einsetzt.

Wertsicht: Sich mit Ungerechtigkeit und gesellschaftlichen Problemen im Umgang mit Vielfalt zu beschäftigen, stelle ich mir nicht gerade entspannend vor. Wie kam es dazu, dass Du Dich mit diesen schweren Themen auseinandergesetzt hast?

Oliver Merz: Mein Gerechtigkeitssinn wurzelt vermutlich schon in meinem Stammbaum. Bereits mein Urgrossvater engagierte sich als Gewerkschaftler gegen die Ausbeutung der Arbeiterschaft und für mehr soziale Gerechtigkeit.

Er kandidierte sogar für den Nationalrat. Wäre die Wahl besser verlaufen, hätte es vielleicht schon früher einen ersten Bundesrat Merz gegeben (lacht).

Meine Grossmutter sagte mir öfters, dass ich meinen Urgrossvater nicht nur äusserlich ähnlich sei, sondern auch in meiner sozialen Haltung.

In meiner Jugendzeit rieten mir mein Pfarrer und andere, ich soll Pfarrer werden. Eigentlich wollte ich Grafiker werden und absolvierte darum eine grafische Erstausbildung.

Mit 19 Jahren erhielt ich die Diagnose «Multiple Sklerose» (MS), was meine Lebensplanung auf den Kopf stellte. Kurz vorher begann ich, mich auf mit Sinnfragen und Spiritualität auseinanderzusetzen.

Die starken MS-Schübe erschütterten meinen jungen Glauben. Ich wollte mehr wissen und stellte mich immer tiefgründigeren Lebensfragen.

Letztlich folgte ich den Empfehlungen meines Umfelds und studierte Theologie.

Inklusion
Oliver Merz im Einsatz als Referent an einer Fachtagung. - zvg

Bevor ich an meine erste Pfarrstelle geschickt wurde, musste ich mir allerdings ärztlich bestätigen lassen, dass ich trotz meiner chronischen Krankheit für eine solche Tätigkeit tauge.

Spätestens dann wurde mich bewusst, dass diese Beeinträchtigung auch meinen Berufsweg stark beeinflussen kann.

Mit dieser persönlichen Betroffenheit erforschte ich die Zusammenhänge von Krankheit, Beeinträchtigung und Pfarrberuf in fast allen meiner Diplomarbeiten, bis zur Doktorarbeit und darüber hinaus.

Wertsicht: Deine Erfahrung und Spezialisierung führte zur Gründung des «Institut Inklusiv». Was muss ich mir darunter vorstellen?

Oliver Merz: In den letzten Jahren untersuchte ich die Herausforderungen von anderen Einzelpersonen und Gruppen, die in Kirche und Gesellschaft von Diskriminierung und Ausgrenzung gefährdet sind, zum Beispiel Kinder, Frauen, Betagte, Migrantinnen und Migranten und LGBTIQ*.

Die Anfragen für Schulung und Beratung nahmen immer mehr zu. Ich besprach mich über die Zeit mit ausgewählten Personen aus meinem grossen und vielfältigen Netzwerk.

Dann kam die Anfrage für einen ersten grösseren Auftrag, der nicht mehr als Nebenerwerb abgerechnet werden konnte. Die Institutsgründung war eine logische Folge.

Das «Institut Inklusiv» unterstützt beispielsweise Organisationen, Firmen, Institutionen oder Behörden dabei, die Vielfalt und Verschiedenheit wertzuschätzen und zu nutzen.

Es fördert die Inklusion von Einzelpersonen oder Gruppen und ermöglicht und gestaltet deren Teilhabe. Es tut dies in der Regel auf allen Organisations- und Führungsstufen bis zur praktischen Umsetzung.

Dies geschieht in erster Linie durch Sensibilisierung, Schulung, Beratung, Begleitung und Grundlagenforschung. Das Institut bietet diesbezüglich zahlreiche Dienstleistungen an, beispielsweise Referate, Schulungen, Workshops, Kurse, Beratungen, Umfragen oder Erhebungen.

Es schneidet die einzelnen Dienstleistungen und Angebotspakete individuell auf die Kundinnen und Kunden zu.

Wertsicht: Ist eine inklusive Gesellschaft nicht eine Illusion und Utopie?

Oliver Merz: Das ist eine gute und viel gehörte Frage, die eine längere Antwort bräuchte. Ich erlaube mir eine Gegenfrage: Wenn Inklusion utopisch und illusorisch ist, wie steht’s denn diesbezüglich mit Integration?

Nachdem man in unserem Land lange Zeit kaum von Diversity, Inklusion und Co. gesprochen hat, werden sie innerhalb kurzer Zeit inflationär verwendet und zu «Reizworten».

Wird’s mit Inklusion schwierig, neigt man vielerorts reflexartig dazu, sich wieder auf die bekannten und scheinbar funktionierenden Integrationsansätze zu berufen.

Das ist aber schon nur aufgrund der gesetzlichen Situation und gesellschaftlichen Entwicklungen eigentlich keine Option mehr. Inklusion ist sicher ein sehr hohes Ziel, ein Ideal, das wir nie ganz erreichen. Inklusion ist ein Weg, auf dem wir immer unterwegs sein werden.

Ist es aber realistischer, anzunehmen, man könne Menschen so «vervollständigen» (lat. integrare) und «normalisieren», dass sie für den Zugang zur Gesellschaft konform werden? Und, mit wie weit offenen Armen empfängt eigentlich die Gesellschaft diese Menschen?

Auch wenn in den letzten Jahrzehnten viel in die verbesserte Integration von marginalisierten Personen und Gruppen investiert wurde, sind die Herausforderungen gross.

Ich verwende jeweils das Bild des Brückenbaus. Mindestens fürs soziale Zusammenleben gilt, dass Brücken von beiden Seiten gebaut werden müssen, so gut dies allen Beteiligten möglich ist.

Auch meine eigene Forschung bestätigt, dass Inklusion zuerst einmal eine Haltungssache ist. Wille und Bereitschaft sind ausschlaggebend.

Statt integrativ zu stark in «Betroffene» zu investieren, muss sich auch die Gesellschaft insgesamt zugänglicher machen.

Und ja, es wird wohl Grenzen geben. Vielleicht werden wir nie ganz auf separierende Angebote verzichten können. Inklusion verpflichtet uns aber dazu, es uns damit nicht zu einfach zu machen.

Eine vielfältige Gesellschaft, an der alle freiwillig und unabhängig von ihrer Konstitution gleichberechtigt und möglichst selbstbestimmt teilhaben können. Das ist das herausfordernde, aber inzwischen sogar menschenrechtlich abgestützte Ziel.

Es liegt in unser aller Verantwortung, dafür unseren Beitrag zu leisten – und zwar möglichst gemeinsam mit betroffenen Menschen und nicht über sie hinweg.

Wertsicht: Wer bucht eure Angebote und wofür?

Oliver Merz: Das ist sehr unterschiedlich. Es sind zum Beispiel Ausbildungsstätten, die Studierende für die Herausforderungen ihrer möglichen Klientel in Kirchen, Organisationen oder Institution sensibilisieren wollen.

Oder Kunden, die ihre Organisation insgesamt inklusiver gestalten wollen, um der Vielfalt ihrer Mitarbeitenden angemessen zu begegnen und das diesbezügliche Potenzial besser zu nutzen.

Insbesondere von Kirchen werden wir aktuell stark bei deren Herausforderungen im Umgang mit LGBTIQ* um Unterstützung angefragt.

Vorlesungen beziehungsweise Unterricht, Referate, Workshops, Seminare, Einzel- und Gruppenberatungen, Fachartikel, die Palette der gebuchten Angebote war von Anfang an breit.

Zunehmend gilt es, mit Kund:innen individuelle Pakete für längere Prozesse zu schnüren. Eine verbesserte Inklusion bedarf häufig ein abgestimmtes Vorgehen, und vor allem Zeit.

Wertsicht: Zum Schluss, wenn du einen Wunsch frei hättest, wie würde er lauten?

Oliver Merz: Die Vielfalt und Verschiedenheit unseres schönen Landes sind unser Potenzial und fordern uns zugleich heraus.

In der Präambel zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft wird dazu der Wille bekräftigt, «(…) in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, (...) und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, (…)».

Ich wünschte mir eine Schweiz, die sich konsequent und uneigennützig dafür einsetzt, was sie sich seit langer Zeit auf die Fahne geschrieben hat.

Mehr Informationen zu Oliver Merz und zum «Institut Inklusiv» finden Sie unter www.institutinklusiv.ch.

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