Wenn das Elternhaus versagt, ist es an uns, einzugreifen!

Verena E. Brunschweiger
Verena E. Brunschweiger

Zürich,

Die Dunkelziffer bei Übergriffen an LGBTIQ-Personen liegt 85 Prozent. «Das kann und darf nicht sein!», schreibt Kolumnistin Verena Brunschweiger.

LGBT-Demonstration in Ungarn
Eine Drag Queen schwenkt eine Regenbogenfahne auf einer LGBT-Rechte-Demonstration vor dem ungarischen Parlament. Foto: Bela Szandelszky/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Dr. Verena E. Brunschweiger schreibt auf Nau.ch regelmässig Kolumnen.
  • Heute schreibt sie über «Hate Crimes» – und was wir alle dagegen tun können.

Hasskriminalität, sogenannte «Hate Crimes», sind in der Schweiz trauriger Alltag für viele LGBTIQ-Personen und nicht der Glitzer auf der Bühne. Nemo hin oder her.

Mit 305 Meldungen von LGBTIQ-feindlichen Angriffen und Diskriminierungen hat sich die Anzahl 2023 mehr als verdoppelt, liest man im «Hate Crime Bericht» von Pink Cross in Bern.

2022 wurden 134 und ein Jahr davor 92 Fälle gezählt. Im Jahr 2024 waren es 309 Fälle.

Vermutlich denken jetzt etliche kaltschnäuzige Leute, dass sich diese Zahlen doch trotzdem in Grenzen hielten.

Nemo
Nemo provoziert unfreiwillig viele Leute. Warum? - keystone

Nur 15 Prozent der Fälle werden gemeldet

Diesen Leuten sei gesagt, dass nur 15 Prozent dieser «Hate Crimes» bei der Polizei angezeigt wurden!

Dort erlebten nur 40 Prozent der Meldenden Unterstützung, bei 19 Prozent gab es eine sachliche Reaktion. 11 Prozent erlebten «Ablehnung oder Herablassung». Und 13 Prozent «Unwissenheit».

Moment mal, 11 Prozent Ablehnung? Und wie kann es zu 13 Prozent «Unwissenheit» kommen? In jeder Seniorenresidenz in den USA gab es von Profis geleitete Seminare und Workshops, um Angestellte auf Besonderheiten im Umgang mit LGBTIQ-Menschen hinzuweisen.

Donald Trump tut seit seiner Wiederwahl alles, diese Programme abzubauen. Seit dem 17. Juli gibt es auf Trumps Dekret hin die «LGBTQ+Youth Specialized Service Hotline» nicht mehr, die homosexuellen Teenagern mit Suizidgedanken (über)lebensnotwendige Hilfe leistete.

Die 11 Prozent, die queeren Opfern gegenüber ablehnend auftreten, müssten meiner Meinung nach auch dienstlich Sanktionen bekommen.

Sexualdelikte anzeigen braucht Überwindung

Es ist bekannt, dass patriarchale Institutionen wie Militär oder Polizei überdurchschnittlich viele Männer anziehen. Auch solche, die sexistisch, homophob oder rassistisch (oder antisemitisch und antiziganistisch) sind. Oder oft auch all das zusammen.

Diese 11 Prozent sind dann wohl auch jene, die vergewaltigte Frauen drei Stunden im Nachthemd befragen. Und jedes Detail ganz genau wissen wollen.

Das sind beispielsweise Gründe, warum zahlreiche Frauen Sexualdelikte nicht anzeigen. Weil sie genau das nicht verkraften. Wieder und wieder erzählen zu müssen, wie es zu diesem Vaginalriss kam – und ob sie nicht doch selber ein wenig Schuld wären.

Michela Marzano, Professorin in Paris, schreibt in ihrem Buch «Ich warte immer noch darauf, dass sich jemand bei mir entschuldigt», dass auch nach «MeToo» etliche Französinnen nicht den Support bekommen, den wir alle den Opfern eines Übergriffs schulden. Sondern im Rahmen von klassischem Victim-Blaming sexistische Beleidigungen aushalten müssen.

Verena Brunschweiger.
Verena Brunschweiger schreibt Kolumnen auf Nau.ch. - zvg

Voyeurismus beim Beamten?

Marzano beschreibt das Phänomen der «Allumeuses», die angeblich die Männer so richtig anheizen, um ihnen – die Bösen, wie können sie nur! – dann nicht die Triebabfuhr am belebten Objekt, also ihrem Körper, zu gönnen.

Auch hier war zu lesen, dass das detailreiche «Rekonstruieren des Tathergangs» nicht (nur) diesem geschuldet schien. Sondern dem teils mehr, teils weniger offenen Voyeurismus des die Anzeige aufnehmenden Beamten.

Misogynie, die Abwertung von Frauen, das Nicht-Ernst-Nehmen ihrer Aussagen sind eine «beliebte Tradition» in allen Kulturen. Aber Homophobie, das ist doch angeblich vor allem «bei den Russen» so ein riesiges Problem. Bei uns hier ist das insgesamt schon alles in Ordnung, oder?

Wenig Vertrauen in Institutionen

Auch in Westeuropa wird die Situation erschreckend schnell eklatant schlechter: So haben mehr als 70 Prozent der schwulen Männer und lesbischen Frauen in Luxemburg in den letzten zwölf Monaten Gewalt erlebt.

Aber nur vier Prozent von ihnen haben Anzeige erstattet. Als Hauptgrund dafür wird der Mangel an Vertrauen in die Institutionen genannt.

Zehn Prozent der Fälle enden mit Verurteilung

Ähnlich in der Schweiz: Befürchtete Ablehnung, die Angst vor den Tätern im Prozess, fehlendes Wissen und die Einschätzung, dass der Vorfall keine polizeiliche Relevanz hätte, waren hier die verbreitetsten Gründe, keine Anzeige zu erstatten.

Nur etwa zehn Prozent der besonders viel Kraft und Mut kostenden Prozesse zu Sexualdelikten enden mit einer Verurteilung.

Kein Wunder also, dass so exorbitant viele Menschen nicht anzeigen.

Albträume und Angststörungen

Traumatische Erlebnisse wie sexuelle Gewalt wirken zunächst wie ein Schock. Und sind mit starken Gefühlen wie Wut und Scham verbunden.

Nicht wenige Opfer leiden danach an Albträumen. Oder entwickeln Angststörungen, die ohne Therapie ein Leben lang bleiben können.

Pink Cross ist ebenfalls der Ansicht, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Es brauche mehr und bessere Betreuung der Opfer. Und eine gesellschaftliche Debatte, um das Thema weiter zu enttabuisieren. Der wichtigste Aspekt überhaupt: Präventivarbeit mit möglichen Tätern.

Mehr Streetworker in die Parks

Die meisten Übergriffe treffen jüngere Personen im öffentlichen Raum. Also warum nicht mehr Streetworker zu Bahnhöfen und in die Parks schicken?

Bei jeder Pride Parade gibt es Awareness-Teams. Warum nicht statt mehr Polizeipräsenz mehr sozialpädagogisch ausgebildete Awareness-Teams, die mehr Social Skills zu bieten haben als der durchschnittliche Polizist?

Und warum nicht mehr Awareness-Bildung und -schaffung durch Expert:innen als referierende Gäste in Einrichtungen wie Schulen oder der Polizei?

Wenn das Elternhaus mal wieder versagt, ist es an uns allen, auf die potenziellen Täter (in über 90 Prozent junge Männer) einzuwirken.

Denn: Was für ein unglaubliches Armutszeugnis ist es, wenn sich Frauen und Homosexuelle bevorzugt nur noch in Safe Spaces aufhalten wollen – oder können! Wenn überhaupt einer existiert.

Zur Person: Dr. Verena E. Brunschweiger, Autorin, Aktivistin und Feministin, studierte Deutsch, Englisch und Philosophie/Ethik an der Universität Regensburg. 2019 schlug ihr Manifest «Kinderfrei statt kinderlos» ein und errang internationale Beachtung.

Kommentare

User #4484 (nicht angemeldet)

Sorry, das Narativ, der Mann ist boese und an allem Schuld, ist einfach nur noch langweilig. Das wir Menschen ein Gewaltproblem haben, ist grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen. Jedoch alles auf den bösen Mann abwälzen? Zu einfach, viel zu weit an der Ursache vorbei und auch schlicht weg nicht zielführend langfrisitg gesehen. Die Lösung? Keine Ahnung aber sicherlich keine Hetze wie es gerade im kollektiven medialen Zeitgeist getätigt wird.

User #2405 (nicht angemeldet)

Das Thema ist offensichtlich nicht einfach, das zeigt sich auch an fehlenden Kommentaren. Bedingt durch sozial-ethisch-gesellschaftlich und religiöse Vorstellungen und Erziehung. Vergessen wir auch nicht Provokationen, die bewusst oder unbewusst erfolgen und das Ganze zusätzlich komplizieren. Viele Personen, vor allem auch junge Männer sind wahrscheinlich dann überfordert und reagieren inadequat. Anstatt zuviel davon reden, wenn schon, mit weniger Emotionen und mehr Empathie, denn dies scheint unserer Gesellschaft mehr und mehr zu fehlen.

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