Sollen wir für einen Regime-Wechsel im Iran sein?
Als isoliertes Gedankenexperiment sei ein Regime-Wechsel im Iran eine attraktive Option, findet Marko Kovic. Nur: Ist die Zeit dafür reif? Eine Kolumne.

Das Wichtigste in Kürze
- Die US-Amerikaner haben sich an den Angriffen auf den Iran beteiligt.
- Der bekannte Sozialwissenschaftler Marko Kovic schreibt über den Regime Change in Iran.
Die USA haben in Israels Krieg gegen den Iran interveniert und iranische Atomanlagen bombardiert. Trump hat mit einer Ausweitung des Krieges gedroht, falls der Iran auf die amerikanische Bombardierung in irgendeiner Form militärisch reagiert.
Es gibt vieles, was im und am Iran schön ist. Das Land hat eine lange Geschichte, spektakuläre Landschaften, eine pulsierende Kulturszene, herzliche Menschen. Was am Iran definitiv nicht schön ist, ist dessen politisches System.
Ist die Zeit im Iran reif für einen Regime-Wechsel?
Der Iran ist eine islamistische theokratische Diktatur. Von 1979 bis 1989 war Ruhollah Chomeini der oberste Führer, sprich Diktator des Iran.
Nach Chomeinis Tod 1989 übernahm Ali Chamenei das Zepter. Bis heute regiert er den Iran als theokratisches Staatsoberhaupt.
Die Welt wäre ohne das islamistische Regime in Teheran ceteris paribus zweifellos eine bessere. Das wissen auch die Millionen Menschen im Iran, die in den vergangenen Jahren gegen das iranische Regime demonstriert haben.

Ist nun der Moment gekommen, diese Welt mit Waffengewalt herbeizuführen und das iranische Regime zu stürzen? Ist die Zeit reif für einen Regime Change in Iran?
Als isoliertes Gedankenexperiment ist Regime Change in Iran eine attraktive Option.
Das Problem ist, dass wir nicht in einem isolierten Gedankenexperiment leben, sondern in einer komplizierteren Realität.
Die Friedenstaube Donald Trump
Donald Trump ist im jüngsten Wahlkampf als Friedenspräsident aufgetreten, der Schluss mit Kriegen und Konflikten mache. America First. Der aktuelle Krieg im Iran geht aber 100 Prozent auf Donald Trumps Rechnung.

Unter Barack Obama wurde 2015 das Wiener Abkommen über das iranische Atomprogramm (Join Comprehensive Plan of Action) abgeschlossen.
Das Abkommen war ein Deal, dass der Iran sein militärisches Atomprogramm aufgibt und im Gegenzug Wirtschaftssanktionen gegen den Iran aufgehoben werden.
Das Abkommen wurde vom Iran, den USA, Russland, China, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Deutschland sowie der Europäischen Union unterzeichnet.
Es war ein grosser diplomatischer Erfolg — und ein wirksamer. Der Iran begann, unter internationaler Kontrolle sein Atomprogramm abzubauen.

Bis Donald Trump 2018 in seiner ersten Amtszeit das Abkommen platzen liess. Der Iran nahm sein Atomprogramm in der Folge wieder auf. Was uns ins Hier und Jetzt bringt.
Philosophische Probleme mit Regime Change
Der Politikwissenschaftler Carlo Masala argumentiert in einem Essay in der Zeit, dass Israels Angriff auf den Iran völkerrechtlich illegal ist, moralisch aber vielleicht legitim (Der Essay wurde vor der amerikanischen Bombardierung veröffentlicht.).
Masala hat damit recht: Geltendes Recht führt nicht immer zu den moralisch besten Ergebnissen. Recht zu brechen kann zu moralisch richtig sein.
Wenn ich sehe, dass ein Kind in einem See ertrinkt, werde ich das Kind retten. Auch wenn für den See ein Badeverbot besteht.
Angriffe sind auf Iran völkerrechtswidrig
Die Angriffe Israels und der USA auf den Iran sind klar völkerrechtswidrig. Hier gibt es keinen Diskussionsspielraum, wie auch Masala festhält.
Aber: Wenn die Angriffe auf den Iran dazu führen, dass der Iran in Zukunft weniger Leid anrichten kann, weil das Regime nicht in den Besitz von Atomwaffen kommt, wäre der Bruch des Völkerrechts utilitaritisch akzeptabel.
Moralischer Drang zum Regime Change
Utilitarismus ist die moralphilosophische Position, dass sich der moralische Status einer Handlung an ihren Konsequenzen bemisst. Regime Change kann grundsätzlich zu moralisch besseren Zuständen führen.
Darum habe ich persönlich auch den starken moralischen Drang, den Regime Change im Iran zu befürworten.
Diese Schlussfolgerung ist aber nur im Rahmen eines sehr engen utilitaristischen Gedankenexperiments zulässig: Wenn wir das Gedankenexperiment erweitern, ist nicht klar, dass der Erwartungswert eines Regime Change im Iran positiv ist.
Wenn wir einen Regime Change im Iran befürworten, bedeutet das, dass wir grundsätzlich das völkerrechtliche Verbot von Angriffskrieg aussetzen.
Und genau hierin liegt das grosse Problem. Angenommen, China entscheidet, Taiwan anzugreifen und einen Regime Change durchzuführen. Utilitaristisch gesehen wäre so eine Entwicklung moralisch schlecht.
Es ist ein Dilemma
Aber, und das ist der springende Punkt: Wenn wir Völkerrecht für moralisch akzeptablen Regime Change aussetzen, setzen wir Völkerrecht kategorisch aus.
Wenn wir befürworten, dass Israel und die USA einen gewaltsamen Umsturz des iranischen Regimes durchführen, gibt es schlicht keine völkerrechtliche Grundlage mehr, um einen chinesischen Regime Change in Taiwan zu missbilligen.
Der einzige Mechanismus, um einen chinesischen Regime Change in Taiwan zu verhindern, wäre kriegerische Intervention gegen China — mit wiederum utilitaristisch gesehen potenziell verheerenden Folgen.

Das ist das Dilemma. Völkerrecht mag grundsätzlich ein deontologisches Regelwerk sein, das auf den ersten Blick mit utilitaristischen Überlegungen im Konflikt steht: Starre Pflichtenethik, die auf dem Befolgen fixer Regeln beruht, ist blind für akutes Leid.
De facto hat Völkerrecht aber eine regelutilitaristische Funktion: Es sind Regeln, die, wenn sie befolgt werden, die Ergebnisse im Durchschnitt utilitaristisch optimieren.
Praktische Probleme mit Regime Change
Regime Change als utilitaristischer Reflex ist nicht nur philosophisch bedenklich. Auch empirisch gibt es viel Evidenz, die zeigt, dass Regime Change gerade utilitaristisch oft verheerend schlechte Folgen hat. Regime Change hat eine lange Geschichte des Scheiterns.
Nicht zuletzt im Iran. Der letzte demokratisch gewählte iranische Premierminister war Mohammad Mosadeggh. Mosadeggh, der die iranische Erdölproduktion nationalisieren wollte, wurde 1953 in einer Regime-Change-Operation der USA und des Vereinigten Königreichs abgesetzt.
Der iranische Shah Reza Pahlavi wurde zum diktatorischen Alleinherrscher. Bis 1979, als er durch Islamisten gestürzt wurde und das heutige theokratische Regime entstand. Regime Change hat also recht direkt zur heutigen Situation im Iran geführt.
Regime Change mit katastrophalen Folgen
Auch jenseits des Iran gibt es viele Beispiele für katastrophale Folgen von Regime Change. 1979 begann der sowjetisch-afghanische Krieg.
Die islamistischen Mudschahidin begannen einen Bürgerkrieg gegen die kommunistische Regierung, die die Sowjetunion um Intervention bat.
Die USA schalteten sich in den Krieg ein und unterstützen die Mudschahidin umfassend, um Regime Change zu bewirken.
Mit Erfolg: Die kommunistische Regierung und die Sowjetunion wurden besiegt. Es gab aber weitere Konsequenzen. Aus den islamistischen Mudschahidin formierten sich die Taliban.

Einer der prominentesten Kämpfer auf Seiten der Mudschahidin war Osama bin Laden, der noch vor Kriegsende seine Terrororganisation al-Qaida gründete, um den Jihad auch ausserhalb Afghanistans weiterzuführen.
2003 griffen die USA und weitere Länder den Irak an und stürzten den irakischen Diktator Saddam Hussein. Der Irak versank daraufhin im Chaos, aus der nicht zuletzt die Terrororganisation ISIS entstand. Der Regime Change im Irak ist eines der grössten politischen Desaster des Jahrhunderts, das im Mindesten eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat.

2011 erteilte der Sicherheitsrat der UNO die Erlaubnis, eine Flugverbotszone über Libyen durchzusetzen.
Das Ziel war, den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi daran zu hindern, im libyschen Bürgerkrieg Luftangriffe auf Zivilpersonen durchzuführen.
Chaos und Leid
Die NATO-Koalition weitete diesen Auftrag aus und begann Angriffe auf Gaddafis Militäranlagen und Truppen mit dem Ziel, den Diktator zu stürzen. Die Folge von Gaddafis Umsturz war totales Chaos. Jahrelanger Bürgerkrieg, desaströse Kriminalität (inkl. Menschenhandel), humanitäre Krisen und eine bis heute anhaltende Fragmentierung der Macht.
Regime Change ist nicht nur ein philosophisches Problem. Regime Change funktioniert ganz unmittelbar empirisch nicht.
Regime Change resultiert nicht in Frieden und Demokratie, sondern in Chaos und Leid.
Moralischer Reflex mit negativem Erwartungswert
Ich wünsche mir aufrichtig, dass es das theokratische Regime in Teheran möglichst bald nicht mehr gibt. Und ich habe darum, wie viele andere Menschen, den moralischen Reflex, einen militärischen Regime Change als Mittel zum Zweck zu befürworten.
Negativer Erwartungswert
Ein Regime Change im Iran dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einen negativen Erwartungswert haben. Erstens wissen wir, dass die unmittelbaren moralischen Ziele von Regime Change kaum je erreicht werden.
Regime Change hat in der Vergangenheit in den betroffenen Ländern in der Regel nicht zu Demokratie und Frieden geführt.
Das bedeutet nicht, dass es dieses Mal nicht gelingen kann. Die empirische Ausgangslage als Prior Information deutet aber darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit für ein optimales Erfolgsszenario — nach minimalen Kämpfen wird das Regime gestürzt und ohne weitere Konflikte beginnt unmittelbar danach liberale Demokratie — nicht allzu hoch ist.
Zweitens bedeutet ein Regime Change im Iran, dass wir die Aufhebung des völkerrechtlichen Kriegsverbots billigen.
Das könnte im konkret vorliegenden Fall zu einem moralisch wünschenswerten Ergebnis führen.
Aber: Die Aufhebung des Kriegsverbotes würde auch anderen Ländern grundsätzlich erlauben, Regime Change durchzuführen — auch dann, wenn der Regime Change, den sie anstreben, moralisch gesehen schlecht ist.
Sollen wir für Regime Change im Iran sein? Mein Herz sagt ja. Mein Verstand sagt nein.
Zum Autor: Marko Kovic ist Gesellschaftskritiker. Er interessiert sich für gesellschaftlichen Wandel und die Frage, ob wir noch zu retten sind. Er lebt in Uzwil SG.