Menschen mit Behinderung sind im Nationalrat untervertreten. Kaum digitale Hilfsmittel erleichtern das Wählen. Zeit, dass sich das ändert! Ein Gastbeitrag.
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Marianne Plüss von den Grünliberalen. Sie kandidiert für den Nationalrat. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Nur zwei Parlamentarier repräsentieren Menschen mit Behinderung im Schweizer Nationalrat.
  • Auch das Wählen selbst ist für diese Bevölkerungsgruppe oft eine Herausforderung.
  • Im Jahr 2023 müsste die Schweiz da deutlich weiter sein.
  • Das sagt Nationalratskandidatin Marianne Plüss von den Grünliberalen in ihrem Gastbeitrag.
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Bald wissen wir, wer am 22. Oktober die Wahl ins Bundeshaus geschafft hat. Ist Ihnen, abgesehen vom Entscheid, welche Namen auf die Liste geschrieben werden sollen, das Panaschieren, Kumulieren und das Lesen der Wahlunterlagen leichtgefallen?

Rund 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung, im Nationalrat wird sie aber nur durch zwei Parlamentarier vertreten, welche selbst eine Behinderung aufweisen. Deshalb kandidieren in diesem Jahr in verschiedenen Kantonen Menschen mit einer Behinderung für ein Nationalratsmandat. Einige von ihnen engagierten sich bereits im Frühling an der ersten nationalen Behindertensession.

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Teilnehmer an der Kundgebung «Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen» halten auf dem Bundesplatz in Bern ein Banner. - dpa

Menschen mit Behinderungen weisen eine grosse Fachkompetenz in Themen wie Energie, Umwelt, Migration oder Mobilität auf. Wir sind nicht einfach «nur behindert», denn mit unserer Erfahrungsexpertise gelingt es uns, zu jedem Thema den Bezug zur Behinderung zu machen.

Politische Partizipation für Menschen mit Behinderung eine Herausforderung

Für viele Menschen mit Behinderungen ist die politische Teilhabe mit grossen Herausforderungen verbunden oder sie wird gar verunmöglicht, wenn die Betroffenen aufgrund ihrer Behinderung nicht stimmberechtigt sind.

Sei es, dass sehbehinderte und blinde Menschen die Unterlagen nicht selbstbestimmt lesen und ausfüllen können; die Unterlagen nicht in leichter Sprache verfasst sind oder gehörlose Kandidierende, mangels finanzieller Mittel, keine Gebärdensprachdolmetscher engagieren können und so auf Podien oder Standaktionen verzichten müssen. Das sind nur ein paar wenige Einblicke in die Herausforderungen, denen wir Menschen mit Behinderungen in unserem Alltag begegnen.

Behinderte Menschen sind oft auf Hilfe und Vertrauen angewiesen

Ich nenne das nicht gleichberechtigte Teilhabe. Nur schon die Einführung des E-Votings, welches seit Jahren von Betroffenen und Verbänden gefordert wird, würde uns vieles erleichtern. Haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Lust auf ein kleines Experiment?

Schliessen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, auf Ihrem Esstisch liegt das geschlossene Couvert mit den Wahlunterlagen. Versuchen Sie, es gemäss Vorschrift zu öffnen.

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Die Auswahl ist bei den diesjährigen Nationalratswahlen deutlich grösser als vor vier Jahren. - keystone

Entnehmen Sie dem Couvert die vielen Zettel und Heftli. Sie lesen richtig. Mit geschlossenen Augen können Sie die Flyer, den Stimmausweis, die Anleitungen und geschweige denn die Namen nicht erkennen. Möglicherweise hilft Ihnen eine vertraute Person oder Sie besitzen ein sprechendes Lesegerät (diese sind in der Anschaffung teuer und werden von der IV meist nur für den Arbeitsplatz gesprochen), dann sind Sie in der Lage, die Liste mit Ihren Favoritinnen und Favoriten auszufüllen.

Sind Menschen mit Behinderung Ihrer Meinung nach erfolgreich in die Gesellschaft integriert?

Dabei tauchen zwei Herausforderungen auf. Wie merke ich, ob alles korrekt ausgefüllt ist? Ist die Stimmkarte unterschrieben und auch ins richtige Couvert gelegt, damit die Stimmen auch gültig sind? Zweitens muss man sich komplett auf eine andere Person verlassen können, damit der eigene Wille bei der Abstimmung oder Wahl auch wirklich umgesetzt wird.

Falls Sie eine vertraute Person beiziehen mussten, hat sie Ihnen nur Personen vorgelesen, welche auf den Listen aufgeführt sind? Hat sie anschliessend Ihre Liste so ausgefüllt, wie Sie es wollten und nicht die Assistenzperson?

Ein anderes Hilfsmittel zur Kontrolle haben Sie nicht. Haben Sie mit gutem Gefühl das Couvert in den Briefkasten geworfen? Ich denke, eher nicht.

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Das Bundeshaus. (Archivbild) - keystone

Ich bin sehbehindert. Bei mir hinterlässt das Wählen oder Abstimmen jedes Mal ein ungutes Gefühl. So wie mir geht es sehr vielen Menschen mit Sehbehinderung in der Schweiz. Es ist endlich an der Zeit, dass wir selbstbestimmt wählen können.

Inklusive Gesellschaft noch weit entfernt

Von einer modernen, fortschrittlichen, digitalen, reichen und demokratischen Schweiz habe ich im Jahr 2023 eine andere Vorstellung. Wir Menschen mit Behinderungen haben die gleichen Pflichten wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser.

Dennoch sind wir weit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt am sozialen und politischen Leben teilnehmen und so auch nicht für die nötige Vielfalt sorgen können.

Auch in vielen weiteren Lebensbereichen werden wir ausgeschlossen oder müssen lange und hart dafür kämpfen. Es ist Zeit, das zu ändern!

Zur Autorin: Marianne Plüss arbeitet als Sachbearbeiterin bei einer Behindertenorganisation, hat als Parlamentarierin an der ersten Behindertensession teilgenommen und kandidiert im Kanton Bern für den Nationalrat.

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