Der russische Überfall auf die Ukraine hat die europäischen Gewissheiten auf den Kopf gestellt. Ein Gastbeitrag von Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller.
Die Mitte
Marianne Binder-Keller, Nationalrätin Die Mitte. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Geschichtslosigkeit der neuen selbsternannten Friedenstauben ist beängstigend.
  • Im erstarkten Bewusstsein der gemeinsamen Werte liegt eine gute Perspektive für Europa.
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Während meiner Kindheit und Jugend trennte Europa eine Mauer, dahinter das Gefängnis einer kommunistischen Diktatur. Wer floh, wurde erschossen. 1989 der Mauerfall.

Die meisten Satellitenstaaten der Sowjets, welche sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ihrem Griff befanden, erlangten in der Folge ihre Selbstbestimmtheit. Die Waffenarsenale wurden abgebaut und terrestrische Angriffe innerhalb Europas rückten immer mehr aus den Bedrohungsszenarien.

Wer trotzdem warnte, es waren bezeichnenderweise oft auch jene Staaten, welche die Sowjetdiktatur erlebten, hatte ganz offensichtlich zu viele Kriegsfilme geschaut. Die GSoA forderte die Abschaffung der Armee und die Verteidigungsetats der westlichen Staaten wurden zeit-und teilweise dermassen tief dotiert, dass sie ihre Verfassungsaufträge sozusagen sistierten.

Gemächliche europäische Tagesordnung auf den Kopf gestellt

Das eben trotzdem Mögliche ist eingetroffen und hat uns in unseren Gewissheiten in Europa gründlich aufgeschreckt und die gemächliche Tagesordnung auf den Kopf gestellt. Vor einem Jahr hat Russland einen neuerlichen Krieg in Europa angezettelt, der sich diesmal nicht mehr einfach so verdrängen lässt. Nach der Annexion der Halbinsel Krim hat Putin am 24. Februar 2022 die ganze Ukraine angegriffen und ein unabhängiges europäisches Land überfallen.

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Die hochschwangere Marianna Podgurskaya verlässt ein zerstörtes Spital in Mariupol. - Keystone

In einer beispiellosen Verletzung von eigens unterschriebenen Verträgen, des Völkerrechtes und der Menschenrechte attackiert das russische Regime Schulen, Spitäler, Wohnhäuser, Kulturgüter, zerschmettert die Energieinfrastruktur, vermint Weizenfelder, tötet die Zivilbevölkerung, zwangsadoptiert Kinder, deportiert Menschen. Wir sind alle erschüttert.

Zynische Täter-Opfer Umkehr selbsternannter «Friedenstauben»

Das ukrainische Volk wehrt sich gegen den Überfall und kämpft für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Stellvertretend für alle, welche dies in Europa selbstredend für sich einfordern. Auch die neutrale Schweiz. Konfrontiert ist die Ukraine dabei mit einer neuen «Friedensbewegung», welche in einer zynischen Opfer-Täter-Umkehr dem ukrainischen Volk nahelegt, es müsse mit dem Aggressor verhandeln und ein Leben unter russischem Regime doch um Gottes Willen einmal etwas nüchterner betrachten.

Die Russifizierung, die Diktatur, die Deportation, den Gulag. Alles halb so wild, lautet die Botschaft der selbst ernannten Friedenstauben, die dem Schlag des Autokraten aus Moskau mit beängstigend geschichtslosen Botschaften entflattert sind und ebenso beängstigend gleichgeschaltet gurren.

Autokraten zu hofieren ist keine Option

Um es klarzustellen: Russland ist nicht angegriffen. Angegriffen ist die Ukraine. Der angestrebte Sieg der Ukraine ist folglich kein Sieg über Russland, sondern ein Zurückdrängen der russischen Invasoren im eigenen Land, wo sie nichts zu suchen haben. Hört die Ukraine auf, sich zu verteidigen, ist sie Geschichte, beenden die Russen ihren Angriff, ist es der Krieg.

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Mitglieder des Nationalrats stehen schweigend auf dem Bundesplatz, während Kirchenglocken läuten, aus Protest gegen den Ukraine-Krieg, am 9. März 2022 um 10 Uhr. - Nau.ch

Aufgrund der jüngeren europäischen Geschichte ist es wenig ratsam, Autokraten zu hofieren. «Peace For Our Time,» befanden Chamberlain und Co. 1938 im Münchner Abkommen über den Kopf der Tschechoslowakei. Man beglückte Hitler mit dem Sudetenland in der Hoffnung, er gäbe sich zufrieden. Es ging gründlich daneben. Ein Jahr später marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein.

Erstarktes Bewusstsein gemeinsamer Werte in Europa

Der völkerrechtswidrige Angriff auf die unabhängige Ukraine ist ein Angriff auf Europa. Und damit auch ein Angriff auf die Schweiz als Teil des freien Europas. Dessen Verteidigung geschieht mit gemeinsamen Sanktionen, bei denen gerade die Schweiz als wichtiger Finanzhandelsplatz eine Rolle spielt, sollte geschehen als Hilfeleistung durch die Wiederausfuhr der von der Ukraine dringend benötigten Munition von bereits gelieferten Waffen der Schweiz in andere Staaten – der Bundesrat hätte das gemäss Artikel 184 der Bundesverfassung längst in der Hand – geschieht und muss geschehen mit verstärkter Finanzhilfe und Investitionen in den Aufbau der Infrastruktur, welche die russische Armee in unermesslicher Zerstörungswut in Grund und Boden geschossen hat. Die Verteidigung Europas geschieht aber auch mit unserem solidarischen Beitrag an eine starke europäische

Sicherheitsarchitektur durch eine schlagkräftige Schweizer Verteidigungsarmee. «Verhandlungen kommen immer zuerst», sagten beide Helmut jeweils, Schmidt und Kohl, «aber man muss militärisch so stark sein, dass der andere gezwungen ist, sich an den Tisch zu setzen.»

Glauben Sie an ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine?

Die Schweiz bekennt sich nach wie vor zur bewaffneten Neutralität. Diese besagt: Wir greifen niemanden an, verteidigen uns jedoch bei einem Angriff. Ein Friedenskonzept. Würde es weltweit angewendet, gäbe es keine Kriege mehr. Neutralität heisst jedoch nicht, keine Position zu beziehen zwischen Recht und Unrecht. Die Ukraine ist zu Unrecht angegriffen. Zu Recht muss sie gemeinsam in Europa verteidigt werden.

In diesem Sinne, wächst Europa auch zusammen, nämlich im gemeinsamen und erstarkten Bewusstsein der Werte, die wir teilen. Die riesige Solidarität mit den ukrainischen Flüchtenden ist ein eindrücklicher Beweis dafür. Und das ist, meines Erachtens, trotz aller Schrecken dieses Krieges und trotz aller Querelen innerhalb Europas eine gute, hoffnungsvolle und zukunftsorientierte Perspektive.

Zur Autorin: Marianne Binder-Keller ist Nationalrätin und die Präsidentin der Mitte-Partei des Kantons Aargau. Sie ist überdies Mitglied des Schweizerischen Präsidiums der Partei. Die vierfache Grossmutter wohnt in Baden, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

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