Klimadebatte: «Verzicht» ist der falsche Ansatz!

Das Wichtigste in Kürze
- Statt um Entscheidungen geht es in der Klimadebatte häufig um den Verzicht.
- Klimaaktivist Jan Schuller erklärt im Gastbeitrag, weshalb dies der falsche Weg sei.
Sich für etwas zu entscheiden bedeutet, zugunsten einer Option auf andere zu verzichten: Wer am Wochenende in der Frühe am Schwimmkurs teilnimmt, verzichtet aufs Ausschlafen. Wer sich im Restaurant für eines der Gerichte auf der Karte entscheidet, muss zumindest bei dieser Gelegenheit auf alle anderen Menüoptionen verzichten.
Auch in der Klimadebatte müssen wir uns entscheiden. Wird über Klimamassnahmen gesprochen, ist jedoch fast ausschliesslich von Verzicht die Rede. Diese einseitige Festschreibung der Klimadebatte auf das Verzichts-Thema ist aber völliger Unsinn!
Gegen den Verzicht auf Zukunftsperspektiven
Wir sehen täglich auf der einen Seite Meldungen von neuen Umwelt- und Klimakatastrophen, von sozialer Ungleichheit, von unwiederbringlicher Zerstörung und dann, auf der anderen Seite Politiker*innen wie Konzernleitungen, die uns sagen, dass mehr als eine mutlose und letztlich wirkungslose Anpassung des Bestehenden schlicht unrealistisch sei. Wir hätten «realistisch» nach ihren Massstäben zu sein und den aktuellen Stand der Ungerechtigkeit, des Leids in der Welt zu akzeptieren, ja froh und dankbar zu sein, dass es nicht schlimmer ist.

Mit anderen Worten: Wir sollen also auf jede positive Zukunftsaussicht verzichten, die sich nicht um Wachstum und noch mehr Zerstörung dreht. Wir sollen unsere Erwartungen an sozialen Fortschritt herunterschrauben. Wir sollen als Gesellschaft unsere enorm ressourcenintensive Produktions- und Lebensweise beibehalten, die weniger privilegierten Menschen weltweit die Möglichkeiten eines menschenwürdigen Lebens in der Gegenwart oder einer lebenswerten Zukunft raubt.
Um dies zu verschmerzen, wird uns einzig der Wunderglaube an technologische Lösungen oder die Flucht in die Arme der Unterhaltungsindustrie angeboten. Diesen sogenannten Realismus, das Gefühl der Alternativlosigkeit unserer aktuellen Lebensweise, verglich der Kulturtheoretiker Mark Fisher mit der Perspektive eines Menschen mit Depression, der daran glaubt, dass jeder positive Zustand, jede Hoffnung bloss eine gefährliche Illusion sei.
Mehr Lebensqualität für alle
Gegen diese lähmende Grundhaltung, gegen die Fortsetzung neokolonialer Ausbeutungsmuster kämpfen aber immer mehr soziale Bewegungen, Einzelpersonen und Institutionen an, verteilt über den ganzen Globus. Denn in einer Welt der gleichzeitigen Krisen wird immer deutlicher, dass wir nicht länger ohnmächtig zusehen können, wie die Zeit zum Handeln ungenutzt verstreicht.

Sobald wir aber zu überlegen beginnen, wie wir Dinge wirklich verändern können, entsteht etwas Neues: Ein Rahmen, um über all die Möglichkeiten und Freiheiten zu diskutieren, auf die wir bisher verzichtet haben. Plötzlich sehen wir, was wir alles entdecken und erfahren könnten, wenn wir die heutige Art des Zusammenlebens, Zusammenarbeitens und Produzierens hinter uns lassen.
Autofreie Städte sind ein gutes Beispiel für solche Überlegungen: Weil unsere Städte auf die Anforderungen des motorisierten Individualverkehrs ausgerichtet sind, werden andere Fortbewegungsformen wortwörtlich an den Rand gedrängt.
Verzichten Sie zugunsten des Klimas auf bestimmte Dinge?
Das ist bequem für Autofahrende, doch beschwerlich und gefährlich für alle anderen, die deswegen auf Bewegungsfreiheit und Sicherheit verzichten müssen. Autofreie Städte gibt es bereits und sie zeigen auf, was es zu gewinnen gibt: weniger Lärmbelastung, mehr Sicherheit und freie Fläche für sozialen Austausch sowie saubere Luft.

Wenn wir uns also im Zuge der Klimadebatte dafür entscheiden, Städte nach den Bedürfnissen von Fahrradfahrer*innen, Fussgänger*innen, Rollstuhlfahrer*innen, ÖV-Nutzer*innen, Kindern und Jugendlichen zu gestalten, ist es offensichtlich verfehlt, dies einseitig als Verzicht zu sehen. Erfolgt parallel dazu ein Ausbau der Fahrrad-, Fussgänger*innen- und ÖV-Infrastruktur, wird nicht nur der Ausstoss von Treibhausgasen reduziert, auch die Lebensqualität steigt enorm.
Der Wandel bringt neue Möglichkeiten
Jetzt ist der Zeitpunkt, um uns für einen klimagerechtes Zusammenleben, für einen umfassenden Wandel zu entscheiden und eine bedürfnisorientierte Umsetzung gemeinsam anzugehen. Denn dieser Wandel ist absolut notwendig und kann für uns alle mehr Mitsprache, mehr Austausch, bessere Gesundheit und kürzere Arbeitszeiten bedeuten. Auf Vieles, das wir auf diesem Weg entdecken, dazugewinnen, werden wir wohl nie mehr verzichten wollen.
Zum Autor: Jan Schuller ist Mitglied von Klimastreik Schweiz.