Um sich Ärger mit dem Publikum zu ersparen, verzichten Redaktionen vermehrt auf Karikaturen. Zu Recht? Ein Gastbeitrag von Rainer Stadler (infosperber.ch).
Zeichnung Bush und Obama.
Karikatur von George W. Bush und Barack Obama. - keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • In Frankreich hat es erneut Ärger wegen einer Karikatur gegeben.
  • Die Chefredaktorin von «Le Monde» entschuldigte sich, der Karikaturist kündigte.

Die Zeitung «Le Monde» distanziert sich von ihrem langjährigen Karikaturisten – kein gutes Zeichen für dieses Genre der Zeitkritik.

In Frankreich hat es erneut Ärger gegeben wegen einer Karikatur. Vor einer Woche publizierte die Zeitung «Le Monde» in ihrem Newsletter (52'000 Abonnenten) eine Zeichnung ihres langjährigen Mitarbeiters Xavier Gorce. Diese greift den derzeitigen Skandal um einen Inzestfall auf.

Anstoss erregte dabei nicht das Dargestellte, sondern der Dialog zwischen zwei Pinguinen. Da fragt der Kleine den Grossen: «Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Gefährtin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, missbraucht worden wäre, wäre das dann ein Inzest?»

Xavier Gorce Twitter.
Xavier Gorce Twitter. - Twitter / @XavierGorce

Dazu muss man wissen: Gemäss dem französischen Strafgesetz setzt ein Inzest nicht zwingend eine Blutsverwandtschaft voraus. Ein solcher liegt auch vor, wenn ein sexueller Übergriff durch eine Person erfolgt, welche eine Beziehung mit einem Blutsverwandten des Opfers hat.

Im Skandal, der jetzt die französische Öffentlichkeit bewegt, geht es darum, dass die Anwältin Camille Kouchner in einem Buch ihrem berühmten Stiefvater Olivier Duhamel vorwirft, ihren Zwillingsbruder missbraucht zu haben, als dieser noch minderjährig gewesen sei.

Frivolitäten in Frankreich

Einige Angehörige der französischen Elite hatten lange Zeit eine ziemlich frivole Einstellung zum Sex mit Minderjährigen.

Doch die Zeiten ändern sich im Zeichen von «Me too» auch im westlichen Nachbarland. Das hatte der Alt-Intellektuelle Alain Finkielkraut noch nicht bemerkt, der in einer Diskussionssendung die unschöne Aktualität salopp kommentierte, worauf ihn der Sender LCI entliess.

Auf diese Vorfälle hatte sich der Karikaturist Xavier Gorce bezogen. Seine Zuspitzung löste in Teilen der Leserschaft heftigen Protest aus.

Darauf hin entschuldigte sich die neue Chefredaktorin von «Le Monde», Caroline Monnot.

Warum? Weil die Karikatur als Relativierung von Inzest interpretiert und weil ihr Text von Opfern und Transgender-Personen als deplatziert wahrgenommen werden könnten. So notierte es Monnot. Gorce liess sich das nicht gefallen und kündigte sogleich.

Sollen Karikaturisten wirklich abgeschafft werden?

Klima der Intoleranz

Man kann lange darüber diskutieren, was eine treffende Karikatur ist. Aus den Worten von Gorce kann man jedoch nicht herauslesen, dass sexueller Missbrauch eine harmlose Angelegenheit wäre.

Vielmehr erlaubt sich der Karikaturist eine ironische Bemerkung zu Zeitverhältnissen, die auch dank des medizinischen Fortschritts die alte duale Geschlechterordnung durcheinanderbringen.

Charlie Hebdo Demonstration.
Grosses «Je suis Charlie» Plakat, Paris am 11. Januar 2015. - keystone

Man mag das als allzu leichtfüssige Bemerkung zu einem gravierenden Vorfall empfinden.

Wenn damit aber bereits die Grenzen der Satirefreiheit und des Tolerierbaren überschritten sind, wird es eng im publizistischen Kosmos.

Nachdem in Frankreich die deftigen Karikaturen von «Charlie Hebdo», die Angehörigen des muslimischen Glaubens einiges zumuten, zu Recht im Sinn der Medienfreiheit verteidigt worden sind, erscheint die Reaktion von «Le Monde» sehr mutlos.

In diesem Sinne gerät die viel zitierte Tucholsky-Proklamation «Satire darf alles» ihrerseits zur Satire.

So konsequent wie mutlos

Der Fall erinnert an die «Süddeutsche Zeitung», die vor zwei Jahren nach Protesten wegen angeblichem Antisemitismus voreilig zurückkrebste und ihren langjährigen Karikaturisten vor die Türe setzte.

Wenn Redaktionen sich so schwach verhalten, sind die Voraussetzungen für Karikaturisten nicht mehr gewährleistet.

Karikatur Merkel und Obama.
Karikatur von Angela Merkel und Barack Obama. - keystone

Um sich Ärger mit dem Publikum zu ersparen, beschloss denn auch die «New York Times» im Juni 2019, keine Karikaturisten mehr für ihre internationale Ausgabe zu beschäftigen.

Sie entliess Patrick Chappatte und Heng Kim Song. Diese Entscheidung ist zumindest konsequent. Aber ein tristes Zeichen für die satirische Ausdrucksfreiheit – und das Selbstvertrauen von alteingesessenen Zeitungsredaktionen.

Gorce kommentierte den Vorfall in einer neuen Karikatur. Ein Pinguin fragt den anderen: «Haben Sie bereits einen Humor-Pass?»

Zu diesem Gastbeitrag: Dieser Artikel von Journalist Rainer Stadler ist auf Infosperber.ch erschienen. Herausgeberin von infosperber.ch ist die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» (SSUI).

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