In der Wintersession 2022 haben die eidgenössischen Räte einmal mehr über zahlreiche wichtige Themen beraten. Ein Überblick über ein paar zentrale Geschäfte.
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Yvonne Feri ist Nationalrätin, Präsidentin der Stiftung Kinderschutz Schweiz und Präsidentin von ProRaris. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Nationalrat lehnt die Initiative 13. AHV-Rente deutlich ab.
  • Dabei wären zahllose Rentner:innen auf eine existenzsichernde AHV angewiesen.
  • Der Nationalrat setzt im revidierten Sexualstrafrecht auf die Zustimmungslösung.
  • Ein Gastbeitrag von Yvonne Feri, Nationalrätin SP/AG.
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Der Nationalrat sagt Nein zur Initiative «Für ein besseres Leben im Alter». Er hat das Volksbegehren für einen Rentenzuschlag im Umfang einer 13. AHV-Rente mit 123 zu 67 Stimmen ohne Enthaltungen abgelehnt. Dem Entscheid über die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) ging eine fast sechsstündige Debatte voraus. Mit dem Nein setzte sich die bürgerliche Mehrheit durch, die das Vorhaben als nicht finanzierbaren Ausbau nach dem Giesskannenprinzip kritisierte.

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Der SGB reichte die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente Ende Mai ein. - Keystone

Die SP hat die 13. AHV-Rente mit aller Kraft gegenüber den Bürgerlichen verteidigt. Viele sind der Meinung, dass Menschen, die eine ungenügende Altersvorsorge haben, auf Ergänzungsleistungen zurückgreifen können. Ergänzungsleistungen sind aber keine valable Alternative zu existenzsichernden AHV- und IV-Renten. Menschen, die Ergänzungsleistungen beziehen wollen, müssen alle ihre Ausgaben und Einnahmen gegenüber den Behörden offenlegen und rechtfertigen. Für viele ist das sehr erniedrigend. Darum ist ein Ja zur 13. AHV-Rente umso wichtiger.

Sexualstrafrecht: «Nur Ja heisst Ja»!

Der Körper der Frau ist kein Selbstbedienungsladen und die Einwilligung in den Geschlechtsverkehr muss deshalb eine Selbstverständlichkeit sein. Darum ist es umso erfreulicher, dass der Nationalrat anders als der Ständerat im revidierten Sexualstrafrecht auf die Zustimmungslösung «Nur ein Ja ist ein Ja» setzt. Neu sollen sexuelle Handlungen mit bis zu 16-jährigen Kindern unverjährbar sein statt wie bisher mit bis zu 12-Jährigen.

Frauenstreik 2022 Bern
«Nur Ja heisst Ja»: Das Sexualstrafrecht mobilisierte auch am Frauenstreik 2022. - Keystone

Vergewaltiger, die ihre Opfer vorher nötigen, sollen zwingend ins Gefängnis müssen. In diesem Sinne hat der Nationalrat nach einer rund fünfstündigen Debatte die Verschärfung des Sexualstrafrechtes in der Gesamtabstimmung mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen angenommen. Gegen die Vorlage stimmten die SVP-Fraktion sowie einzelne Vertreter der Mitte. Ihnen sind die teilweise verschärften Strafen zu wenig streng. Das Geschäft geht zurück in den Ständerat.

Elisabeth Baume-Schneider neu im Bundesrat

Bei den Bundesratsersatzwahlen sorgte die SP dafür, dass der Frauenanteil nach den Vakanzen durch die Rücktritte von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga nicht geschwächt wurde. Hätte die SP kein Frauenticket präsentiert, hätte sie eine deutliche Untervertretung der Frauen im Bundesrat in Kauf genommen. Das wäre ein No-Go für eine Partei, die seit vielen Jahren die Gleichstellungspartei schlechthin ist. Die SP präsentierte hervorragend qualifizierte Kandidatinnen.

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Elisabeth Baume-Schneider und Albert Rösti legen ihr Gelübde beziehungsweise ihren Eid ab, als neugewählte Bundesratsmitglieder, 7. Dezember 2022. - Keystone

Mit der nach Albert Rösti gewählten Elisabeth Baume-Schneider hat die SP eine Bundesrätin, die für die Bevölkerung Partei ergreifen und auch in ihrer neuen Funktion den Klimaschutz voranbringen, in der Gleichstellungspolitik Pflöcke einschlagen und die Kaufkraft der Menschen stärken wird. Neben den neuen Bundesrät:innen wurde auch der Bundespräsident für 2023 gewählt: Innenminister Alain Berset präsidiert im kommenden Jahr zum zweiten Mal den Bundesrat.

Bundesrat Berset Cassis Baume-Schneider Rösti
Alain Berset und Ignazio Cassis begrüssen ihre neuen Kollegen Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider nach ihrer Wahl, 7. Dezember 2022. - Keystone

Er erhielt allerdings lediglich 140 Stimmen. Wer bei der Wahl zum Bundespräsidenten ein gutes Resultat erzielen will, muss bürgerlich, umgänglich und in der Öffentlichkeit nicht allzu präsent sein. Alain Berset war während der Corona-Krise gemäss einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Link der beliebteste Bundesrat. Dass ihn viele Ratsmitglieder trotz seiner Beliebtheit in der Bevölkerung nicht zum Bundespräsidenten gewählt haben, ist unverständlich.

Pflege-Ausbildungsoffensive starten

Die Pflege-Ausbildungsoffensive, die den Schweizer Spitälern und Heimen zum benötigten Pflegepersonal verhelfen soll, kann starten: Das Parlament hat die nötigen Gelder dafür freigegeben und die Gesetzesgrundlagen bewilligt. Die Förderung der Aus- und Weiterbildung in der Pflege kostet den Bund bis zu 502 Millionen Franken. Nach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat zugestimmt. Die Situation bei der Pflege ist ernst. Es ist deshalb eminent wichtig, dass nun auch die weiteren Forderungen der Pflegeinitiative, die am 28. November 2021 angenommen wurde, umgesetzt werden. Dazu gehören bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, die berufliche Weiterentwicklung und die bessere Abgeltung für Pflegeleistungen.

Einbürgerungen erleichtern

Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation sollen sich einfacher einbürgern lassen können. Dieser Meinung ist der Nationalrat. Er hat einer entsprechenden parlamentarischen Initiative seiner Staatspolitischen Kommission (SPK-N) Folge gegeben.

Reisepass
Schweizer Pässe. (Symbolbild) - keystone

Die Initiative sieht beispielsweise vor, dass bei der Einbürgerung der Geburtsort berücksichtigt, die Art des erforderlichen Aufenthaltstitels erweitert und der Umfang des berücksichtigten Bildungssystems ausgedehnt werden sollen. Im Februar 2017 hatte sich das Stimmvolk für die erleichterte Einbürgerung der dritten Generation ausgesprochen. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass es noch Anpassungen bei den entsprechenden Bedingungen braucht, um die Einbürgerung tatsächlich zu erleichtern. Ich bin deshalb froh, dass der Nationalrat den Verbesserungen nun zugestimmt hat und hoffe, dass der Ständerat nachzieht.

Eigener Strafbestand für Cybermobbing

Die systematische Beleidigung, Bedrohung, Blossstellung oder Belästigung von Personen über digitale Kommunikationskanäle hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen: Fast die Hälfte der Heranwachsenden wurde gemäss der JAMES-Studie 2022 bereits mindestens einmal online sexuell belästigt. Im Jahr 2014 waren es noch 19 %. Auch das Fertigmachen im Internet hat über die Jahre um fast zehn Prozentpunkte zugenommen.

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Cybermobbing hat bei jungen Menschen zugenommen. - Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa/Archivbild

Es besteht also ein grosser Handlungsbedarf. Es ist darum erfreulich, dass der Nationalrat Cybermobbing mit einem eigenen Straftatbestand im Strafgesetzbuch ahnden will. Er hat eine entsprechende parlamentarische Initiative von Gabriela Suter (SP/AG) angenommen. Als nächstes muss sich die Ständeratskommission mit der Sache befassen. Ich bin froh, dass der Nationalrat diesen Vorstoss angenommen hat und hoffe, dass ihm der Ständerat folgen wird.

Massnahmen zu seltenen Krankheiten finanziell absichern

Das Parlament will vom Bundesrat eine gesetzliche Grundlage, damit die Massnahmen des 2014 verabschiedeten nationalen Konzepts seltene Krankheiten (NKSK) auch finanziell abgesichert sind. Der Ständerat hat als Zweitrat gegen den Willen des Bundesrates eine Motion seiner Gesundheitskommission überwiesen. Als Präsidentin von ProRaris Allianz Seltener Krankheiten freut mich dieser Entscheid sehr. Bei der finanziellen Absicherung von Leistungsverträgen soll sich der Bund demnach mit den Kantonen abstimmen für eine nachhaltige Patientenfinanzierung. In der Schweiz leiden gemäss einer Schätzung des Bundes mehr als 500'000 Menschen an einer seltenen Krankheit. Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie höchstens fünf von 10'000 Menschen betrifft und lebensbedrohlich oder chronisch einschränkend ist.

Transparenz bei Mandaten schaffen

Hohe finanzielle Entschädigungen schaffen Abhängigkeiten und haben damit potenziell einen Einfluss auf politische Entscheidungen. Unsere Bevölkerung hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, welche bezahlten Mandate Politikerinnen und Politiker innehaben. Umso enttäuschender ist es, dass Mitglieder des Parlaments auch künftig nicht offenlegen müssen, wie viel Geld sie genau für ausserparlamentarische Tätigkeiten erhalten.

Nationalrat
Der Schweizer Nationalrat. (Symbolbild) - Keystone

Die bürgerliche Mehrheit von SVP, FDP und Mitte im Nationalrat wollte nichts davon wissen, grosse Geldflüsse ab 12'000 Franken für Tätigkeiten offenzulegen und hat eine entsprechende parlamentarische Initiative der SP-Fraktion abgelehnt – mit 95 zu 89 Stimmen bei 5 Enthaltungen. Wieder hat das Parlament also die Chance verpasst, für mehr Transparenz zu sorgen. Gerade jetzt, nach dem Debakel im EU-Parlament, wäre Transparenz noch wichtiger für die Glaubwürdigkeit.

Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen eindämmen

Es gibt viel zu wenige Präventions- und Unterstützungsangebote für Frauen mit Behinderungen. Es ist deshalb erfreulich, dass das Parlament nun zusätzliche Massnahmen des Bundes gegen Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen will. Namentlich soll der Bund dazu gemeinsam mit Kantonen und Verbänden Präventionsprogramme entwickeln.

Rollstuhl
Ein Pfleger schiebt eine Frau in einem Rollstuhl. - dpa-infocom GmbH

Als Zweitrat nahm der Nationalrat eine entsprechende Motion der Tessiner SP-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti an. Er fällte seinen Entscheid mit 132 zu 49 Stimmen bei einer Enthaltung. Vor zwei Jahren war auch der Vorstoss «Gewalt an Menschen mit Behinderungen in der Schweiz» von Nationalrätin Franziska Roth angenommen worden. Das zeigt, dass das Parlament die Situation von Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erleben, verbessern will.

Hinterbliebene Elternteile stärken

Stirbt ein Elternteil kurz nach der Geburt eines Kindes, soll der überlebende Vater oder die überlebende Mutter künftig Anspruch auf 16 Wochen Urlaub haben. Dafür hat sich der Nationalrat ausgesprochen. Die grosse Kammer hiess die Vorlage, ausgelöst durch eine parlamentarische Initiative der früheren St. Galler GLP-Nationalrätin Margrit Kessler, mit 171 zu 1 Stimmen bei 22 Enthaltungen gut. Als Präsidentin/ Geschäftsführerin des Schweizerischen Verbands für Alleinerziehende Mütter und Väter (SVAMV) freue ich mich sehr über diesen Entscheid. Der SVAMV engagiert sich seit langer Zeit für einen Mutterschaftsurlaub für hinterbliebene Väter. Glücklicherweise ist der Tod eines Elternteils direkt nach der Geburt eines Kindes in der Schweiz sehr selten. Und dennoch braucht es dringend eine Regelung, da die Situation für Betroffene unendlich schwer ist.

Mehr gewaltfreie Erziehung

Bereits 2013 hatte ich in einer Motion die gesetzliche Verankerung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung verlangt. Endlich wird diese alte Forderung umgesetzt: Das Parlament hat dem Bundesrat gegen dessen Willen den Auftrag erteilt, das Recht für Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung auch im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) zu verankern.

Gewalt.
Symbolbild zu Gewalt. - Keystone

Der Ständerat stimmte als Zweitrat einem Vorstoss von Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (Mitte/FR) mit 27 zu 8 Stimmen bei 3 Enthaltungen zu. Die Uno hatte die Schweiz zudem schon zweimal gerügt, weil sie noch keine entsprechenden Schritte unternommen habe, obwohl sie 1997 die Uno-Konvention für die Rechte des Kindes unterzeichnet hat. Das Ja im Nationalrat freut mich besonders, weil wir von Kinderschutz Schweiz sehr viel Energie und Zeit in dieses Thema stecken und die Weiterarbeit nun eng begleiten werden.

Gewalt am Arbeitsplatz bekämpfen

Unternehmen haben ein Interesse, konsequent gegen Gewalt am Arbeitsplatz vorzugehen, denn Gewalt verursacht grosses menschliches Leid und wirkt sich negativ auf die Produktivität aus. Konsequenterweise will der Nationalrat, dass die Schweiz ein Übereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation IAO zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung bei der Arbeit unterzeichnet. Anders als dem Ständerat sind ihm die Rahmenbedingungen für die Genehmigung klar genug.

Geisterfirma
Ein Büro. - keystone

Mit 124 zu 49 Stimmen bei vier Enthaltungen stimmte der Nationalrat dem Bundesbeschluss zur Genehmigung des Übereinkommens zu. Das Übereinkommen sieht ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz vor. Weiter nennt es Massnahmen zur Prävention und für Opfer-, Unterstützungs- und Abhilfemassnahmen. Das Geschäft geht nun wieder in den Ständerat. Mit der Ratifizierung des Übereinkommens würde die Schweiz auch im internationalen Kontext verdeutlichen, dass sie gegen Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz konsequent vorgeht.

Zur Autorin

Yvonne Feri ist SP-Nationalrätin aus dem Kanton Aargau. Daneben amtet sie als Präsidentin Stiftung Kinderschutz Schweiz und als Präsidentin ProRaris (Dachverband für seltene Krankheiten).

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