«Diese Umsetzung der Inklusion verstärkt ADHS!»

Clarita Kunz
Clarita Kunz

Zürich,

Nicht die integrative Schule evoziere Lern- und Verhaltensstörungen und verstärke ADHS, sondern lediglich deren aktuelle Umsetzung, schreibt Clarita Kunz.

Clarita Kunz
Clarita Kunz schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch. - zvg

Das Wichtigste in Kürze

  • Clarita Kunz schreibt auf Nau.ch Kolumnen über das Bildungssystem in der Schweiz.
  • Kunz ist Pädagogin, Autorin und Inklusionsberaterin.

ADHS gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen. Auch die Diagnosen sind nicht eindeutig – etwa mit Bluttests – nachweisbar.

Insbesondere die Hyperaktivität ist erblich bedingt. Es gibt Kinder, die sich dreimal mehr bewegen als andere. Das ist immer noch normal.

Je nach Art des Unterrichts stören sie und bereiten Lehrpersonen Kopfzerbrechen.

Probleme entstehen auch wegen einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, genannt ADS. Also, wenn Kinder sich zu wenig lang konzentrieren können.

ADHS Ritalin
Ritalin ist in der Schule ein häufiger Begleiter. - keystone

Mit einem enormen Aufwand an zusätzlichem Betreuungspersonal, mit Zurechtweisungen, Schulhunden, Lernzielanpassungen und der Vergabe von Ritalin wird versucht, das zu ändern. Meist vergeblich.

Besonders schlimm an Zürcher Goldküste

An der Zürcher Goldküste ist es besonders schlimm: Mütter tauschen untereinander Adressen von Ärzten aus, bei denen Medikamente wie Ritalin leicht zu bekommen sind.

Die Problematik ist seit Jahrzehnten die gleiche, genauso wie die Gegenmassnahmen: Symptombekämpfungen und Beschwichtigungen.

Bist du grundsätzlich für die Ritalin-Abgabe bei Schulkindern?

Auch Dagmar Rösler, die Zentralpräsidentin vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, wird nicht müde, zu beschwichtigen. Es bräuchte lediglich «ein paar Tricks» oder kleinere Klassen und mehr Lehrpersonen.

Sie verschliesst die Augen vor der Tatsache, dass Lernstörungen wie Leserechtschreibschwäche, Dyskalkulie und ADHS auch in Schulen mit viel Personal zu-, nicht Abnehmen.

Für zwei Drittel der Klasse passt das Tempo nicht

Rösler sieht den Hauptgrund nicht, weshalb viele Schülerinnen und Schüler bereits in den ersten Schuljahren demotiviert in den Bänken sitzen: das Gleichschritt-Lernen.

Alle Kinder müssen zur gleichen Zeit die Neunerreihe lernen. Auch jene, die noch Mühe mit der Addition und der Subtraktion haben und mit der Zweier-, Dreier- und Viererreihe.

Und jene, die die Neunerreihe längst automatisiert haben, müssen zuhören. Dies, obwohl sie viel lieber schon die 15er- und die 24er-Reihe lernen würden.

Erst recht bemerkbar – und diskriminierend – ist die Prüfung, die für alle zur gleichen Zeit zum gleichen Thema abgehalten wird: Während die immer gleichen Schüler und Schülerinnen versagen, gehören die gleichen zu den Besten.

Fazit: Für zwei Drittel der Klasse passt das Tempo nicht, das die Lehrperson vorgibt.

Bekannte Persönlichkeiten wie Pestalozzi, Remo Largo und Vera Birkenbihl warnten vor dieser Methode.

Birkenbihl sagte: «Wie kam denn irgendwann irgendwer auf die blöde Idee, dass Kinder zur selben Zeit dasselbe lernen müssen? Überlegen Sie, was wir für ein System, was für eine Unfairness wir gebastelt haben. Über die Dinge muss nachgedacht werden, dringend!»

Die enorme Zunahme an Lernstörungen ist in allererster Linie auf diesen Umstand zurückzuführen und nicht darauf, dass es mehr schulpsychologische Abklärungen und Diagnosen gibt, denn Schulpsychologen und Schulpsychologinnen machen ihre Arbeit gut und geben wertvolle Tipps.

Fatale Folgen in gewissen Fächern

Zahlreiche Lern- und Verhaltensstörungen entstehen wegen diesem Unterrichtsmodell. Und bereits bestehende werden verstärkt statt gemindert.

In Fächern wie Geografie, Geschichte und Musik spielt es keine Rolle, wenn alle dasselbe lernen. In Deutsch und Mathematik sind die Folgen dieses Unterrichts aber fatal, da die Voraussetzungen, die Kinder von zu Hause mitbringen, bereits im Kindergarten enorm gross sind.

Sollten Schüler und Schülerinnen in den Fächern Deutsch und Mathematik im eigenen Tempo lernen dürfen?

Dies wird zwar erkannt. Aber: Statt ihnen mehr Freiheit zu gewähren und mehr Eigenverantwortung zu übertragen, versucht man mit einem gigantischen Mehraufwand den ungeeigneten Unterricht beizubehalten.

Wer nicht mithält, gilt als dumm

Lehrpersonen und Heilpädagogen erarbeiten pro Klasse jede Woche – bis zu sieben (!) unterschiedliche Wochenpläne und ebenso viele Prüfungen mit unterschiedlichen Anforderungen und Pensen aus und nennen das dann «individualisiertes Lernen».

Bei vier oder fünf Kindern pro Klasse werden die Lernziele nach unten angepasst – auch wenn sie das gar nicht wollen!

Jugendliche wollen das Gleiche und gleich viel lernen wie alle anderen. Der Wunsch ist berechtigt. Und sie vermuten wohl auch richtig: Lernende, die als schulisch dumm gelten, sind meist nicht dumm – sie lernen nur langsamer als die anderen.

Es ist Zeit, dass der Forderung entsprochen wird, für die die Armutsforscherin Esther Duflo zusammen mit zwei weiteren US-Wissenschaftlern 2019 den Nobelpreis für Ökonomie erhalten hat.

Fördern gemäss dem Stand der Fähigkeiten

Sie haben in Indien und Kenia untersucht, weshalb die von vielen Millionen Dollar unterstützten Bemühungen nichts bewirkten und fanden heraus, dass der Schulunterricht jeweils nicht an das kindliche Niveau angepasst ist.

Sie schlugen deshalb vor, Schülerinnen und Schüler nicht mehr ihrem Alter, sondern vielmehr dem Stand ihrer Fähigkeiten entsprechend zu fördern.

Am besten gelingt dies in Schulen, die mit Lernlandschaften arbeiten, wo Materialien von mehreren Schuljahren zum Arbeiten bereitgestellt werden. Moderne Lehrmittel illustrieren die Aufgaben einleuchtend. Sehr viele Kinder verstehen die Aufgaben auch ohne Vorgaben der Lehrperson und könnten diese selbst erarbeiten.

Dies den schnell Lernenden zu erlauben, würde alle entlasten und die Lehrerinnen und Lehrer hätten mehr Zeit für die langsam Lernenden – es bräuchte keine kleineren Klassen und nicht noch mehr Betreuungspersonal im Klassenzimmer!

Nicht die Politik, sondern die Schulen selbst haben es in der Hand, zukunftstauglichen Unterricht in Lernlandschaften anzubieten.

Allerdings sollten die Lernenden in Deutsch und Mathematik das Schuljahr übergreifend im eigenen Tempo lernen dürfen. Die Noten können beibehalten werden.

In den Zeugnissen sollte in den Selektionsfächern neben der Noten zusätzlich der Lernstand angegeben werden.

Wer eine Schule besucht, die so arbeitet, sieht leicht: So kann Inklusion gelingen.

Schülerinnen und Schüler lernen motivierter, schneller und nachhaltiger. Lernstörungen werden gemindert, nicht verstärkt.

Und das Ziel, dass am Ende der Pflichtschulzeit alle, nicht nur 75 Prozent der Lernenden, die Mindestlernziele erfüllen, wird so erwiesenermassen eher erreicht, als wenn Lehrpersonen das Lerntempo vorgeben.

Zur Person: Clarita Kunz ist Pädagogin, Autorin («Schule als Leistungsbremse») und Inklusionsexpertin.

Kommentare

User #4651 (nicht angemeldet)

Es sind zu viele Themen auf einmal. Ich beschränke mich auf ADHS. Ich habe einen hyperaktiven Sohn und meine Exfrau war Sekretärin in einem Selbsthilfeverein. Die heutige Auffassung, ADHS sei erblich oder psychisch bedingt, ist schlichtweg falsch. Dies entspricht nicht den Tatsachen. ADHS ist das körperliche Symptom einer Vergiftung, die entweder pränatal oder im Säuglingsalter entstanden ist, beispielsweise durch Impfungen. Ritalin wirkt nur, wenn die oben genannten Bedingungen zutreffen; ansonsten werden die Kinder noch hyperaktiver. Das merkt man aber schnell.

User #2823 (nicht angemeldet)

Wenn man den Lernstand angibt, ist das auch wiederum ein Nachteil. Wen werde ich für die Lehrstelle wohl nehmen? Der mit Lernstand 5 oder 9?

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