Wandern Bergler wegen Felsstürzen bald ins Flachland ab?
Ob Blatten VS oder Brienz GR: Drohende Felsstürze führen dazu, dass ganze Dörfer evakuiert werden müssen. Haben Bergdörfer überhaupt noch eine Zukunft?

Das Wichtigste in Kürze
- Extreme Naturereignisse zwingen ganze Bergdörfer zur Evakuation.
- Durch den Klimawandel könnten solche Ereignisse noch zunehmen.
- Zwei Experten schätzen die Zukunft von exponierten Bergregionen ein.
Im Lötschental im Wallis droht nach mehreren Felsabbrüchen am kleinen Nesthorn noch immer ein massiver Bergsturz. Deswegen wurde am Montag das Dorf Blatten VS fast vollständig evakuiert.
Die grösste Gefahr laut Experten: Der Gipfel des Kleinen Nesthorns könnte auf den darunterliegenden Birchgletscher stürzen und einen Murgang auslösen.
Experte: Steigende Naturgefahren können die Abwanderung beschleunigen
Und Blatten ist nicht das einzige Dorf, das wegen eines drohenden Naturereignisses geräumt werden musste. Auch Brienz GR musste im November 2024 – schon zum zweiten Mal – evakuiert werden.

Der wohl berühmteste Bergsturz ereignete sich 2017 im Bündner Bergdorf Bondo GR. Das Dorf entging nur knapp der Zerstörung. Acht Menschen kamen aber ums Leben.
Durch den Klimawandel könnten solche extremen Naturereignisse in den Alpen zunehmen.
Haben exponierte Bergdörfer also überhaupt noch eine Zukunft? Und: Will hier bald keiner mehr wohnen?
Nau.ch hat bei Lukas Rühli nachgefragt. Er ist Senior Fellow und Forschungsleiter Smart Government der Denkfabrik Avenir Suisse.
Laut ihm gibt es strukturschwache Alpentäler. Diese hätten heute schon – nicht wegen der Naturgefahren, sondern aus demografischen Gründen – mit Abwanderung zu kämpfen.
«Hier könnten steigende Naturgefahren die Abwanderung beschleunigen», so Rühli.

Das sei aber nicht unbedingt eine Abwanderung in die Städte.
Sondern eher eine in niedriger oder besser gelegene Regionen der Alpentäler. Zudem sei der Begriff «Alpentäler» eine zu starke Verallgemeinerung. Denn es gebe auch Alpentäler, die deutliches Bevölkerungswachstum aufweisen.
Bergbevölkerung will weiterhin vor Ort bleiben
Carmelia Maissen, Präsidentin der Regierungskonferenz der Gebirgskantone, sagt auf Anfrage von Nau.ch, dass die Abwanderung nicht durch Bergstürze oder Murgänge bedingt sei.
Im Gegenteil: «Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass der Grossteil der von Naturgefahren betroffenen Bergbevölkerung weiterhin vor Ort verbleiben will», erklärt Maissen. Selbst dann, wenn sich definitive Umsiedlungen abzeichnen würden.
Denn: «Die emotionale Verbundenheit der Bergbevölkerung mit ihren Ortschaften und Talschaften ist sehr hoch.»

Maissen betont, dass es sich stets um lokale Ereignisse handelt, die teilweise unterschiedliche Ursachen haben. Deshalb daraus zu schliessen, dass alle Bergtäler entvölkert werden, sei abwegig.
Schutzmassnahmen als Prävention
Wie kann also die Lebensqualität in Bergdörfern gesichert und verbessert werden?
Die Schweiz pflegt laut Rühli einen vorbildlichen Umgang mit Naturgefahren. Dank gezielten Schutzmassnahmen sei bisher langfristig kein Anstieg der Schäden durch Naturereignisse zu beobachten gewesen. Dies, obwohl die Infrastruktur stark gewachsen und viel teurer geworden sei.
Solche Schutzmassnahmen können beispielsweise Staudämme, Schutzwälle, Auffangbecken, Lawinenverbauungen oder Entwässerungen sein. «Doch die Alpen sind – und waren schon immer – ein dynamischer Naturraum», erklärt Rühli.

Auch Maissen betont, dass bereits heute sehr viel passiere: Gefahrenkarten würden laufend aktualisiert und Schutzmassnahmen umgesetzt oder ausgebaut.
«Die Klimaerwärmung ist eine globale Herausforderung, die nicht alleine durch die Schweiz gelöst werden kann. Wir müssen uns somit den sich wandelnden Verhältnissen anpassen», so Maissen.
Ab wann rechnen sich die Schutzmassnahmen nicht mehr?
In seltenen Fällen können die erhöhten Gefahren laut Rühli zu Umsiedlungen führen. Und zwar dann, wenn die Menschen an speziellen Orten gebaut haben. Also da, wo die Risiken hoch und die Kosten-Nutzen-Abwägungen für Schutzbauwerke schlecht sind.
Diese Entscheidungen zur Umsiedelung würden aber gemäss Rühli immer in enger Abstimmung mit den Betroffenen fallen. Also durch die Gemeinde oder den Kanton. Wichtig sei, dass es nicht von oben herab oder nach irgendwelchen pauschalen Prinzipien diktiert werde.

Ab wann sind solche Schutzmassnahmen zu teuer? In Brienz GR beispielsweise kostet ein Entwässerungsstollen 40 Millionen Franken. Notabene für ein Dorf mit 100 Einwohnern.
Da stellt sich die Frage, was wichtiger ist: Die Freiheit des Einzelnen oder die Kosten, welche die Allgemeinheit tragen muss?
Für Rühli ist es nicht ein «Entweder-oder». Schon heute werde eine Schutzmassnahme nur durchgeführt, wenn deren Kosten geringer seien als der bei Massnahmenverzicht zu erwartende Schaden.
Kosten-Nutzen-Verhältnis vieler Schutzmassnahmen ziemlich günstig
Nicht nur der Schutz der ansässigen Bevölkerung werde dabei berücksichtigt, sondern auch der Wert der touristischen Nutzung. Rühli: «Ebenso einbezogen wird die Infrastruktur wie Bahnlinien, Kantonsstrassen oder gar Nationalstrassen und Stromleitungen.»
Das Kosten-Nutzen-Verhältnis vieler Schutzmassnahmen sei aus diesen Gründen – im Vergleich zum Beispiel zu einer Verlegung – ziemlich günstig. Aber es könne natürlich auch einmal vorkommen, dass sich eine Massnahme nicht rechtfertigen lasse.
Rühli: «Bei Brienz würde man, sollte der Entwässerungsstollen nicht die gewünschte Wirkung erzielen, wohl langsam an eine Grenze stossen.»