Täter schuldunfähig: Was macht dies mit Opfer-Familie?
Eine Person bringt jemand anderes brutal um – doch der Täter gilt als schuldunfähig. Wie zuletzt in Aschaffenburg. Was bedeutet das für Angehörige?

Das Wichtigste in Kürze
- Täter können unter gewissen Umständen als schuldunfähig eingestuft werden.
- Zwei Schweizer Mordfälle zeigen die verschiedenen Facetten der Schuldunfähigkeit auf.
- Ein Experte beantwortet die wichtigsten Fragen rund ums Thema.
Der Messer-Attentäter aus Aschaffenburg (D) ist schuldunfähig – dies wurde kürzlich bekannt.
Ein Experte diagnostiziert bei ihm eine dauerhafte psychische Erkrankung und bestätigt, dass er zur Tatzeit nicht zurechnungsfähig gewesen war. Heisst: Er soll dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden.
Doch ab wann gilt jemand als schuldunfähig? Und was macht dieser Befund mit den Angehörigen der Opfer?
So ist Schuldunfähigkeit geregelt
In der Schweiz ist die Schuldunfähigkeit im Strafgesetzbuch geregelt. Grundsätzlich besagt der Artikel 19: Eine Person ist nicht schuldfähig, wenn sie zur Zeit der Tat nicht in der Lage war, das Unrecht ihrer Handlung einzusehen oder danach zu handeln.
Dies kann beispielsweise wegen einer psychischen Störung, geistigen Behinderung oder einer schweren Bewusstseinsstörung, zum Beispiel durch Drogen oder Alkohol, sein.
Die Folge: Ist jemand nicht schuldfähig, kann er nicht bestraft werden. Bei verminderter Schuldfähigkeit kann das Gericht die Strafe mildern.
Für ein begangenes Verbrechen im Alkohol- oder Drogenrausch gibt es zusätzlich den Artikel 263 im Strafgesetzbuch.
Dieser besagt: Wer infolge selbstverschuldeter Trunkenheit oder Betäubung unzurechnungsfähig ist und in diesem Zustand ein Verbrechen begeht, muss mit maximal drei Jahren Freiheitsstrafe rechnen.
Was löst ein solcher Befund bei Angehörigen aus?
Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW, sagt zu Nau.ch: «Grundsätzlich überschätzen wir immer ein wenig, wie Opfer oder Angehörige über die Bestrafung von Tatpersonen denken.»
Angehörige möchten, dass die Tatperson ihre Strafe erhalte – oberste Priorität habe es aber nicht. Viel wichtiger sei die Unterstützung für Opfer oder Angehörige.
Diese brauche es, damit die Betroffenen wieder annähernd ein Leben führen können, wie es vor der Tat war. «Es braucht Zugang zu Beratung, Psychotherapie und zu finanzieller Unterstützung», so Baier.

Ausserdem bedeute die Einstufung von Schuldunfähigkeit nicht, dass die Tatperson auf freien Fuss kommt. Der typische Fall sei es, dass die Person in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen werde. Wie es in Aschaffenburg der Fall sein soll.
Baier argumentiert: «Das Leben solcher Tatpersonen ist für viele Jahre dann ebenso fremdbestimmt, wie es in einer Strafvollzugsanstalt der Fall wäre.»
Mord unter Rich-Kids an der Zürcher Goldküste
Auch in der Schweiz gab es brutale Tötungsdelikte, bei denen die Schuldfähigkeit der Tatperson infrage gestellt wurde.
Dezember 2014: Zwei junge Männer lassen eine Partynacht in einer Villa an der Zürcher Goldküste ausklingen. Sie gehören der vermögenden Jugend vom Zürichberg an.
Damian* (31), Sohn eines Galeristen, und der knapp zehn Jahre jüngere Alex sind seit Jahren befreundet.
Was in dieser Nacht alles geschah, ist bis heute nicht klar. Doch: Die Polizei findet eine übel zugerichtete Leiche. Damian schlug dem Opfer im Drogenrausch einen Kerzenständer über den Kopf und rammte ihm eine Kerze in den Hals.
Zweieinhalb Jahre nach der Tat startet der Prozess vor dem Bezirksgericht Meilen. Laut einer Gerichtsreporterin versuchte der Angeklagte, sein Opfer schlecht zu machen.
Er sei von Alex angegriffen worden und habe sich wehren müssen. Das Opfer sei ihm im Drogenrausch als Alien erschienen.
Es konnten jedoch fast alle Aussagen widerlegt werden. Das Bezirksgericht Meilen verurteilte Damian 2017 zu einer Freiheitsstrafe von 12,5 Jahren. Er ist also doch nicht schuldunfähig.
Alien-Story scheitert vor Bundesgericht
Das Obergericht kassierte dieses Urteil. Es attestierte dem Mann selbstverschuldete Unzurechnungsfähigkeit und reduzierte die Strafe auf drei Jahre.
Das Obergericht beachtete die Vergangenheit des Täters nicht: Wenn er Drogen konsumierte, tickte er regelmässig aus. Er vergewaltigte unter anderem seine Freundin. Er wusste also genau, wie er sich verhält, wenn er Drogen konsumiert.
Das Bundesgericht wies dieses Urteil an das Zürcher Obergericht zurück. Damian wird im Sommer 2022 für die Tötung an Alex und Vergewaltigung an seiner damaligen Freundin zu 12 Jahren Haft verurteilt. Inzwischen ist er wieder auf freiem Fuss.
Der Täter hatte also erfolglos versucht, mit der Alien-Story eine mildere Strafe zu bekommen. Wie einfach ist es, so etwas vorzuspielen?
Zustand vorspielen: «Sehr unwahrscheinlich»
Dass der psychische Zustand «gefakt» werden kann, bezeichnet Dirk Baier als «nicht ausgeschlossen, aber sehr unwahrscheinlich».
Baier erklärt: «Eine Tatperson wird ja nicht schuldunfähig gesprochen, weil sie sich in einer Vernehmung oder bei einem Gerichtstermin so verhält.»
Gutachten von geschulten Psychiatern würden eingeholt und die Vergangenheit einer Tatperson ausgeleuchtet werden.
Im Übrigen sei es «gar nicht so erstrebenswert, schuldunfähig gesprochen zu werden. Denn der Aufenthalt in einer Institution wie einer Klinik kann deutlich länger dauern als ein Aufenthalt im Strafvollzug.»
Der Fall Ilias
Seniorin A. F. ist schuldunfähig. Im März 2019 ersticht sie in Basel einen 7-jährigen Buben auf seinem Nachhauseweg.
Der kleine Ilias war ein Zufallsopfer. Die Tat war aber geplant. Motiv: Die Seniorin fühlte sich von den Behörden nicht ernst genommen.
Vor 30 Jahren wurde ihre Wohnung zwangsgeräumt. Dabei sollen Akten verschwunden sein.
Nach der Gräueltat schreibt die 75-jährige Schweizerin eine SMS an mehrere Personen: «Hoi ihr Lieben. Habe ein Kind getötet, damit ich mein Eigentum zurückbekomme. Stelle mich der Polizei und übernehme die Verantwortung.»
Ein psychiatrischer Gutachter stellt Ende 2019 die Schuldunfähigkeit bei der Frau fest. Seit Jahren litt die Frau unter Realitätsverlust und Wahnvorstellungen.
Die Seniorin war einschlägig bekannt und wurde vor der Tat drei Mal psychiatrisch begutachtet. Ausserdem liefen auch mehrere Verfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.
Trotz all diesen Hinweisen konnte die Tat nicht verhindert werden. Wie kann so etwas passieren?
Taten können nicht verhindert werden
Dirk Baier stellt klar: «Wer verspricht, dass er solche Taten ein für alle Mal verhindern kann, lügt.» Man könne aber sicher besser werden, Bedrohungen früher zu erkennen.
In der Schweiz sei das Bedrohungsmanagement bereits sehr gut entwickelt. «Deutschland kann hiervon lernen», sagt Baier.
Er erklärt: «Wenn eine Person zum Beispiel mit Gewaltandrohungen in Erscheinung tritt, wird die Gefährdung systematisch geprüft und es werden Massnahmen getroffen.»
Er gehe fest davon aus, dass ein solches Bedrohungsmanagement schon viele schwere Straftaten verhindert habe.
*Name geändert.