SEM-Entscheidungsmacht über Aufenthalte ist verfassungswidrig

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Lausanne,

Die Kompetenz des SEM, kantonal erteilte Aufenthaltstitel zu entziehen, ist teilweise verfassungswidrig. Zu dem Schluss kommt das Bundesgericht.

b ausweis
Eine Aufenthaltsbewilligung B. (Archivbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Das SEM darf kantonal erteilten Aufenthaltstiteln die Zustimmung verweigern.
  • Das ist teilweise verfassungswidrig, urteilt das Bundesgericht.

Das SEM darf kantonal erteilten Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen die Zustimmung verweigern. Laut Bundesgericht ist dies teilweise verfassungswidrig, da Urteile kantonaler Gerichte übersteuert werden können. Dies widerspricht der Gewaltenteilung.

Zudem werde mit dieser gesetzlich festgelegten Kompetenz die richterliche Unabhängigkeit verletzt. Zu diesem Schluss kommt das Bundesgericht in einem am Freitag publizierten Urteil.

Im konkreten Fall verweigerte das Zürcher Migrationsamt einem straffällig gewordenen Iraker die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung.

Das Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde des 46-jährigen Mannes gut und wies das Amt an, die Bewilligung zu erteilen. Der Mann ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat mit ihr zwei minderjährige Kinder.

bundesgericht
Das Bundesgericht in Lausanne. - Keystone

Zwischen 2007 und 2018 wurde er wegen Delikten wie Urkundenfälschung, Fahrens trotz Führerausweisentzugs, gewerbsmässigen Betrugs, Sachbeschädigung, Nötigung mehrfach zu Geldstrafen und zuletzt zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. In den Jahren 2009 und 2013 wurde er ausländerrechtlich verwarnt.

Noch während des Vollzugs verweigerte das Zürcher Migrationsamt im Juli 2018 eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung.

Der Iraker sollte nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis aus der Schweiz weggewiesen werden. Mitte November 2018 wurde er bedingt entlassen. Und das Verwaltungsgericht entschied Anfang 2020, dass die Aufenthaltsbewilligung des Mannes zu verlängern sei.

Unterschiedliche Entscheide

Auf der Basis des Ausländer- und Integrationsgesetzes verweigerte das Staatssekretariat für Migration (SEM) nach dem Entscheid des Verwaltungsgerichts jedoch seine Zustimmung zur Verlängerung und wies den Mann aus der Schweiz weg.

Diese Kompetenz steht dem SEM aufgrund des Artikels 99 Absatz 2 des Ausländer- und Integrationsgesetzes ausdrücklich zu.

Das Bundesgericht erklärt die entsprechende Gesetzesbestimmung in seinem Leitentscheid als teilweise verfassungswidrig. Es muss sie aber aufgrund der Bundesverfassung anwenden und der Artikel bleibt weiterhin in Kraft. Den Gesetzgeber ruft das Gericht jedoch an, die Problematik zu entschärfen.

Aufenthaltstitel
Laut Bundesgericht ist die Kompetenz des SEM, Aufenthaltstiteln die Zustimmung zu verweigern, teilweise verfassungswidrig. (Symbolbild) - keystone

Der Mechanismus der besagten Bestimmung hat laut dem höchsten Schweizer Gericht zwei Grundprobleme. So könne das SEM ein gerichtliches Urteil übersteuern und für die betroffene Person werde der Rechtsweg verlängert.

Darüber hinaus könne es zu sich widersprechenden Urteilen zweier oberer Gerichte kommen – der letzten kantonalen Gerichtsinstanz und des Bundesverwaltungsgerichts.

Urteile verpflichten Behörden

Das Gewaltenteilungsprinzip gebiete den Verwaltungsbehörden ausserdem, sich an rechtskräftige Gerichtsentscheide zu halten. Eine Ausnahme davon könne es geben, wenn sich eine Befugnis zur Übersteuerung eines Urteils direkt aus dem Verfassungsrecht ergebe.

Dem SEM steht neben dem Zustimmungsverfahren die Möglichkeit offen, kantonale Gerichtsentscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen, auf die ein Anspruch besteht, mit einer Beschwerde ans Bundesgericht anzufechten.

Diesen Weg soll das Staatssekretariat in Zukunft primär nutzen, wenn es mit einem kantonalen Entscheid nicht einverstanden sei, schreibt das Bundesgericht. Das SEM verfüge damit über ein wirksames Instrument, um seine bundesstaatlichen Anliegen einzubringen.

Laufendes Verfahren

Die Beschwerde des Irakers hat das Bundesgericht abgewiesen. Es hält fest, dass die öffentlichen Interessen an einer Wegweisung sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz überwiegen würden – auch in Anbetracht des von ihm geltend gemachten Rechts auf Achtung des Familienlebens.

Angesichts der Schwere der von ihm verübten Straftaten, der wiederkehrenden Straffälligkeit, der beiden Verwarnungen, zweier aktuell laufender Strafverfahren und seiner Schuldenwirtschaft sei auf eine ausgeprägte kriminelle Energie und ein nicht hinnehmbares Rückfallrisiko zu schliessen.

Dabei falle auch negativ ins Gewicht, dass es sich bei gewerbsmässigem Betrug um eine Anlasstat handle, die gemäss Strafgesetzbuch – unter Vorbehalt der Härtefallklausel – seit Oktober 2016 eine obligatorische Landesverweisung nach sich ziehe.

Kommentare

User #3330 (nicht angemeldet)

Entlich ein gutes Urtei, den viele Ämter führen selbstjustiz durch und das ist verboten.

User #2233 (nicht angemeldet)

Es muss sehr schwierig sein einen Artikel zu lesen und das gelesene dann auch noch zu verstehen. Den meisten Kommentarschreibern ist entgangen, dass das Bundesgericht den gewählten Weg des SEM zwar kritisiert hat den entsprechenden Entscheid aber stützt. Der Betroffene muss gemäss dem Urteil die Schweiz verlassen obwohl das Gericht kritisiert zu dass das SEM die Justiz Übergängen hat.

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