SBB: Kontrolleure greifen bei Gepäck auf Sitz durch
Zugbegleiter der SBB greifen ein, wenn Pendler ihre Taschen auf den Nebensitz legen. Doch das Phänomen lässt sich psychologisch erklären.

Das Wichtigste in Kürze
- SBB-Kontrolleure mahnen Passagiere, ihre Taschen nicht auf Sitze zu legen.
- Die Gewohnheit ist mehr als Bequemlichkeit – Psychologen sehen darin ein Distanzsignal.
- Der Rucksack auf dem Sitz schützt nämlich nicht nur Platz, sondern auch Privatsphäre.
Zuglinie Zürich-Bern im morgendlichen Pendelverkehr.
Das Abteil ist wie üblich gut ausgelastet, wenn auch nicht bis auf den letzten Platz belegt. Der Zugbegleiter schickt sich an, die Billetts und Abonnements der Passagiere zu kontrollieren.
Der Angestellte der SBB belässt es aber nicht beim Scannen der Fahrausweise.
«Das geht einfach nicht!»
Im Gegenteil: Er weist alle Passagiere, die ihre Tasche auf dem Sitz deponiert haben, darauf hin, dass sich das nicht gehört.
Teils in rüdem Ton. «Draussen sitzen Leute am Boden und Sie belegen einen Sitz mit ihrem Rucksack? Das geht einfach nicht!», sagt der Kontrolleur.

Oder: «Beim nächsten Mal müssen Sie den Platz bezahlen, wenn Sie ihn mit Ihrer Tasche belegen.»
Gleiche Strecke, anderer Zugbegleiter, zwei Tage später: Auch hier macht der SBB-Kontrolleur sämtliche Passagiere darauf aufmerksam, dass die Tasche nicht auf den Sitz gehört.
Mehr noch: Er zeigt den Passagieren mit seiner eigenen Umhängetasche, wie diese in der Ablage oberhalb der Sitze platziert werden kann. Freundlich, aber bestimmt.
SBB führt aktuell keine Schwerpunktwoche durch
Zwei Kontrolleure an zwei Tagen mit dem gleichen Anliegen: Zufall oder eine neue Kampagne der SBB?
«Aktuell findet keine Schwerpunktwoche statt», sagt SBB-Sprecherin Fabienne Thommen auf Anfrage von Nau.ch.
Dass sich gleich zwei Zugbegleiter dieser Thematik widmen, scheint also Zufall zu sein.
«Grundsätzlich gilt, dass eine Person nur einen Sitzplatz belegt», erklärt Thommen. «Das Zugpersonal setzt diese Regel mit Augenmass durch.»
Für das Gepäck stünden bei den SBB je nach Zugtyp Ablageflächen über, unter und zwischen den Sitzen zur Verfügung. Das gilt auch für Taschen und Rucksäcke.
Könnte der Zugbegleiter – wie angedroht – tatsächlich einen Zuschlag für die Tasche auf dem Sitz verlangen?
Ja, sagt Thommen. «Im Zweifelsfall gelten die Tarifbestimmungen der Branche, wonach das Besetzen eines Sitzes mit Gepäck ein reduziertes Billett erfordert.»
Die Problematik verstärkt sich im Herbst
In der Praxis wird diese Tarifbestimmung der SBB aber kaum je durchgesetzt.
Gerade im Herbst und Winter tragen die Pendler aber mehr Gepäck bei sich. Grössere Taschen, schwerere Kleider.
Schnell ist der persönliche Gegenstand da auf dem freien Sitz deponiert.
Doch handelt es sich bei dieser schlechten Angewohnheit tatsächlich nur um Bequemlichkeit?
Nein, meint Reise-Psychologin Christina Miro.
«Das Platzieren von Gegenständen auf dem Nebensitz dient häufig nicht nur der Bequemlichkeit.»
Mit dem Rucksack wird das eigene Territorium markiert
Studien zur Nutzung öffentlicher Räume zeigten, dass solche Objekte als symbolische «Boundary-Marker» fungieren.
«Damit ist die Markierung des eigenen Territoriums und die nonverbale Abgrenzung gegenüber anderen gemeint», erklärt Miro.
Psychologisch würde dieses Verhalten signalisieren: «Dieser Bereich gehört vorübergehend zu meinem Raum.»

Auf diese Weise könne räumliche Nähe reguliert und ungewollte soziale Interaktion vermieden werden.
Dieser Reflex ist den Menschen angeboren.
Miro: «Dieses Verhalten ist der Ausdruck eines tief verankerten Bedürfnisses nach persönlichem Raum und Kontrolle über die soziale Distanz.»
Über Jahrtausende hinweg seien unbekannte Individuen als potenziell unsicher oder bedrohlich wahrgenommen worden. «Diese tief verankerten Mechanismen wirken auch heute noch, selbst in alltäglichen Situationen wie der Sitzplatzwahl im Zug.»
Dabei spielt auch das Setting eine Rolle, in welcher die Zugfahrt unternommen wird.
Im Berufsverkehr überwiege ein funktionales, Distanz wahrendes Muster, sagt Miro. «Pendler möchten effizient, ruhig und ungestört ankommen.»
Offenere Grundhaltung bei Freizeitreisenden
Bei Freizeitreisen sei die emotionale Grundhaltung offener. «Menschen nehmen soziale Nähe dann weniger als Bedrohung, sondern eher als potenzielle Bereicherung wahr.»
Dass die Zugbegleiter der SBB also gerade im Morgenverkehr und auf einer klassischen Pendelstrecke aktiv werden (müssen), ist kein Zufall.















