Der italienische Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Marco Bellocchio hat im Rahmen der 53. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel den Ehrenpreis erhalten. Gegenüber Keystone-SDA erzählt er von seinem neuesten Film und warum ihm für seine Arbeit die unmittelbare Realität nicht reicht.
marco bellocchio
Marco Bellochhio im Jahr 2016. - keystone
Ad

Das Wichtigste in Kürze

  • Marco Bellocchio ist Ehrengast am Filmfestival Visions du Réel.

Zu diesem Anlass wurde sein neuester Dokumentarfilm «Marx can wait» (2021) uraufgeführt.

Dieser Preis sei «besonders wichtig, weil er das prekäre Gleichgewicht zwischen Fiktion und Dokumentarfilm anerkennt». Das sagte Marco Müller, ehemaliger Direktor der Filmfestivals von Venedig und Locarno, der für seine Laudatio per Videolink aus Shanghai zugeschaltet war.

«Ich habe viele Auszeichnungen für mein Lebenswerk erhalten, was für mich nur eines bedeutet: Was ich mache, wird oft nicht sofort verstanden und die Wertschätzung kommt erst mit der Zeit», kommentiert Bellocchio gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Tatsächlich gilt Bellocchios Filmschaffen seit seinem Debüt «Pugni in tasca» (1965) als nonkonformistisch. Der Film wurde im selben Jahr beim Filmfestival von Locarno mit dem damaligen Silbernen Segel ausgezeichnet.

Bellocchio hat in seiner langen Karriere sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme gedreht. Er bevorzuge weder das eine noch das andere, sondern nutze das eine und das andere «je nach Projekt». «Mich hat die unmittelbare Realität stets fasziniert. Aber das war mir nicht genug. Also habe ich in den letzten Jahren häufiger versucht, sogenanntes Repertoire-Material mit den Bildern, die ich drehe, zu mischen», sagt Bellocchio. Er finde darin «eine Synthese und einen Stil». Als Beispiele führt der Regisseur Filme wie «Buongiorno, notte» (2003), «Vincere» (2009) und «Marx can wait» an. «Es geht mir darum, eine Verbindung zu den Bildern der Vergangenheit herzustellen.»

«Marx can wait» thematisiert den Selbstmord seines Zwillingsbruders im Jahr 1968. Am 16. Dezember 2016 versammelte der Regisseur seine noch lebenden Geschwister Bellocchio; mit diesen Bildern beginnt der Film. «Von da an galt meine ganze Aufmerksamkeit diesem abwesenden Gast.»

«Der Film ist der Versuch zu verstehen, etwas mehr zu entdecken, als ich es bis dahin getan hatte», sagt Bellocchio. «Ich war immer der Jüngste in der Familie, aber jetzt habe ich ein gewisses Alter», lächelt er. Bewegt haben ihn die «sehr starken und sehr emotionalen Reaktionen», seines Publikums auf den Film, obwohl «ich doch eine sehr persönliche Geschichte erzählt habe». Davon sei das Publikum weit entfernt. Aber vielleicht «finden ja viele von ihnen im Film Qualen, Ängste und Unglück, die auch in anderen Familien verbreitet sind».

Bellocchio betont, er habe diesen Film nicht als Therapie gedreht. Aber: «Er hat mich auf jeden Fall bewegt, er hat mir etwas offenbart, das ich immer aus der Ferne oder durch die Erfahrungen anderer oder durch Figuren, die ich mir ausgedacht hatte, betrachtet hatte». Neben Bellocchios Geschwistern kommen in dem Film auch seine beiden Kinder Pier Giorgio und Elena vor: «Die Geschichte geht weiter, auch in den Fragen, die sie mir während des Films stellen.»

In «Marx can wait» hat Bellocchio viele Szenen aus seinen früheren Filmen eingebaut, die ebenfalls mit der Familiendynamik zu tun haben. Zu dem Verfahren sagt der Regisseur, er habe sich während des langen Schnitts «nach und nach an diesen oder jenen Film erinnert, der in irgendeiner Weise das, was wir erzählen, zusammenführen und darstellen könnte».

Als charakteristisch betrachtet Bellocchio auch, dass «die Aussagen der Protagonisten ausreichend waren, ihre Stimmen waren deutlicher, als ich es hätte sein können, wenn ich die Episoden inszeniert hätte». Als Beispiel führt er den Tod seines Bruders an.

«Die Turnhalle, in der sich die Tragödie abspielte, gibt es nicht mehr, wir haben eine sehr ähnliche rekonstruiert, in der ich diesen Brief las, den mein Bruder Camillo mir geschickt hatte und den ich 'vergessen' hatte.» Bellocchio bezeichnet das als «Armut an Sensibilität». Denn «hinter dieser Nachricht stand eine flehentliche Bitte um Hilfe».

Der Regisseur, der 1939 in Bobbio in der norditalienischen Provinz Piacenza geboren wurde, sagt, dass «die Momente in Bobbio eine Quelle der Inspiration waren». «Im Kino stellt man sich etwas vor und versucht, das darzustellen, was man selbst erlebt hat, und zwar auf komplexe und indirekte Weise», erklärt der Regisseur. «Bestimmte Antworten, wie zum Beispiel in 'Marx kann warten', geben einem etwas zutiefst Wahres zurück.»

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

FilmeArmutKinoTod