Nahost-Konflikt: So geht es Zürcher Jüdinnen und Juden
Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Welt von jüdischen Menschen verändert. 15 Zürcher Jüdinnen und Juden erzählen wie.
Das Wichtigste in Kürze
- Am 7. Oktober 2023 haben die Hamas Israel angegriffen.
- Darunter leiden auch Jüdinnen und Juden in Zürich.
- 15 Jüdinnen und Juden erzählen, wie der Terrorangriff ihr Leben in Zürich verändert hat.
Sonja Rueff-Frenkel, 51, Kantonsrätin FDP
Ich bin angespannt, als läge ein Schatten über allem. Seit dem 7. Oktober ist meine Lockerheit weg und ich bin ständig die News am Checken – das ist eine Belastung, zeitlich und emotional.
Für mich persönlich geht es trotzdem genau gleich weiter, auch wenn ich ein bisschen vorsichtiger unterwegs bin. Natürlich bin ich sensibler geworden, aber Angst vor einem körperlichen Angriff habe ich zum Glück nicht, auch wenn eine latente Unsicherheit besteht.
Die mediale Aufmerksamkeit ist enorm, alle schreiben darüber, vielleicht fast etwas zu viel. Aber in der Bevölkerung wird das Ausmass des Antisemitismus noch nicht genug wahrgenommen. Wenn mir jemand «Sau-Jude» hinterherruft, dann laufe ich genau gleich weiter. Aber Antisemitismus ist immer das erste Signal, dass unsere freiheitlichen und demokratischen Werte in Gefahr sind – das macht mir Angst.
Ich wünsche mir ein Besinnen auf unsere Werte und dass wir diese schützen. Derzeit müssen sogar Weihnachtsmärkte polizeilich geschützt werden, was nicht zur Normalität werden darf. Wir müssen zusammen stehen, damit wir hier alle in Sicherheit leben können.
David Zuch (Name geändert), 31, Ingenieur
Ich erlebe in meinem Alltag kaum Antisemitismus in Zürich – nicht vor und nicht nach dem 7. Oktober. Das hat wohl damit zu tun, dass man mir nicht ansieht, dass ich jüdisch bin. Ich trage keine Kippa oder Tzizit und auch keinen Davidstern um den Hals.
Sorgen macht mir aber, dass Menschen über den Konflikt urteilen, ohne viel über die Thematik zu wissen und ohne sich Gedanken darüber zu machen, was sie damit bei anderen Menschen auslösen. Gleichzeitig fühlen sich viele Jüdinnen und Juden in Gefahr
Wegen Aussagen, die sie eigentlich gar nicht bedrohen müssten. Ein Beispiel ist der Ausruf «Free Palestine» oder das Schwingen der Palästina Flagge. Diese Elemente sind in sich nicht antisemitisch. Es geht um die Befreiung der Palestinänserinnen und Palestinänser. Die Furcht vor diesen Elementen besteht, da diese unter anderem auch in antisemitischen Events verwendet und damit konnotiert werden. Wenn sich jüdische Personen also per se davon bedroht fühlen, so müssten Palestinänserinnen und Palestinänser sich auch von einer Israelfahne bedroht fühlen.
Auch problematisch ist, dass die israelische Regierung das Antisemitismus-Label als Schutzmechanismus missbraucht. Sobald sich jemand politisch gegen Israel stellt, ist er ein Antizionist und somit auch ein Antisemit. Das ist ein gefährlicher Trugschluss und schadet jüdischen Personen in Europa, die tatsächlich antisemitische Gewalt erfahren. Es soll erlaubt sein, Israel als Land zu kritisieren, sofern die Kritik kontextualisiert wird.
Bettina Spoerri, 55, Schriftstellerin, Verlegerin und Dozentin
Das Leben fühlt sich jetzt sehr zerbrechlich, beängstigend, alptraumhaft an. Die Raver in Panik, auf dem offenen Feld niedergeschossen, vergewaltigte Frauen, von bewaffneten Horden als Geiseln entführt … Ich muss alles im Detail recherchieren, wie schon beispielsweise beim Bataclan-Massaker – als könnte das den Schrecken bannen.
In den 1990ern lebte ich in Israel, sah im TV die Aufmärsche in palästinensischen Gebieten; ich weiss, wie blanker Hass aussieht. Der 7. Oktober hat mir die Hoffnung auf Frieden geraubt. Und ich sehe die Naivität Europas. Heute verbindet sich der Judenhass in und aus muslimischen Ländern mit dem ebenso alten europäischen Antisemitismus, dem Antiimperialismus und Antizionismus zu einer grotesken Mischung.
Mein linkes, kulturelles, intellektuelles Umfeld: aufgesprengt. Kalte Relativierungen der brutalen Verbrechen der Hamas. Der beseelte Wunsch, die richtige Seite zu wählen, macht blind. Juden und Jüdinnen hatten nie eine Wahl; die Mehrheit weist uns unsere Rolle zu. Meine Vorfahren flohen vor 120 Jahren vor Pogromen aus Osteuropa in die Schweiz. Jetzt werden in Europa wieder Davidsterne an Türen gemalt, Gewalt gegen jüdische Menschen eskaliert, die Sicherheit unserer Gemeinde wird verstärkt. Die grosse Mehrheit schweigt – und setzt die Werte einer offenen Gesellschaft aufs Spiel.
Jochi Weil-Goldstein, 81, Friedensaktivist
Als ich vom Überfall der Hamas auf Israel erfahren habe, war ich gerade im Schabbat-Gottesdienst. Im ersten Moment war ich sprachlos und fassungslos. Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich das ganze Ausmass dieser Tragödie begriffen habe. Das Gefühl der Ohnmacht spüre ich bis heute.
Anders als ein Grossteil aus meinem weiteren jüdischen Umfeld kann und will ich mich nicht kompromisslos auf die Seite Israels schlagen, sondern auch die Katastrophe in Gaza sehen. Ich finde es erschreckend und beängstigend, wie sehr sich seit Kriegsausbruch zwei derart starre Fronten gebildet haben. Als Friedensaktivist und Brückleinbauer setze ich mich seit 43 Jahren für eine friedliche Koexistenz zwischen Israel und Palästina ein.
Vor dem 7. Oktober wurde ich für diese Haltung bei jüdischen Bekannten eher respektiert. Heute spüre ich zunehmend die Erwartungshaltung, ich solle Israel in dieser Situation kompromisslos unterstützen. Einmal verweigerte mir eine Frau am Verkaufsstand der Kampagne Olivenöl bei der Begrüssung den Handschlag mit den Worten: «Mit Ihnen spreche ich nicht mehr. Sie stehen auf der Seite der Hamas.» Das hat mich sehr getroffen. Ich fühle mich einsamer als zuvor, weil ich mit meiner Position mehr als bisher alleine auf dem Brücklein stehe, ausser bei fortschrittlichen jüdischen Freundinnen und Freunden. Dabei ist es gerade jetzt wichtiger denn je, in einen Dialog zu treten. Wir müssen zumindest versuchen, die Gegenpartei zu verstehen, Fragen stellen.
Anthony Goldstein, 74, Gemeinderat FDP
Seit dem 7. Oktober hat sich für uns, die jüdische Bevölkerung der Schweiz, einiges verändert. Ehrlich gesagt, waren wir uns vorher schon bewusst, dass der Antisemitismus auf der Welt und auch in der Schweiz latent vorhanden ist. Doch mit den schrecklichen Geschehnissen in Israel ist er leider auch hier wieder sicht- und spürbarer geworden.
Was aktuell in Israel passiert, dient gewissen Leuten als guten Grund, diesen Antisemitismus wieder einmal aufflammen zu lassen. Das war schon immer so; wenn etwas in Israel passiert, dann hat dies Auswirkungen auf die jüdische Bevölkerung der gesamten Welt. Die Menschen, die jetzt bei Demonstrationen mitlaufen und Parolen mitschreien, wissen oft nicht viel über die tatsächlichen Hintergründe des Konflikts. Ich nehme das mit Bedauern zur Kenntnis, denn ändern kann ich es nicht.
In der Schweiz hat der Antisemitismus zum Glück keinen so grossen Einfluss auf den Alltag von jüdischen Menschen wie in England, Frankreich oder Deutschland. Dort ist er viel präsenter. Ich gehe jedenfalls genauso mit meiner Kippa durch die Strassen wie zuvor, mache alles weiter wie bisher. Ich habe keine Angst. Doch wachsamer müssen wir sein.
Thomas Meyer, 49, Schriftsteller und Drehbuchautor
Ich werde jetzt dann 50 Jahre alt, das bedeutet leider ein halbes Jahrhundert erlebten Antisemitismus. Unzählige Male musste ich mir anhören, was für üble Kerle die Juden doch seien, maliziös und gierig, gerissen und mächtig. Nicht von Neonazis oder eingewanderten Islamisten. Ich kenne gar keine. Sondern von Schweizerinnen und Schweizern aus dem linken Milieu; gebildeten und freundlichen Menschen, die ausgesprochen allergisch auf den Hinweis reagierten, dass die Dinge, die sie über Juden behaupten, antisemitische Vorurteile seien. Und die mich «rechthaberisch» und «überempfindlich» nannten, wenn ich darauf bestand. Ich war also schon vor dem 7. Oktober 23 ziemlich genervt.
Seither bin ich einfach nur verzweifelt. Mein Umfeld zeigte sich teilnahmsvoll und solidarisch. Aber jenseits dessen kocht der Judenhass komplett über. Auf einer Hausmauer an der Zypressenstrasse steht jetzt: «From the river to the sea». Das ist Englisch für «Juden raus». Was kommt da noch alles?
Jehuda Spielman, 28, Gemeinderat FDP
Mir wäre es am liebsten, gar nicht über dieses Thema zu sprechen und mich stattdessen nur mit lokalpolitischen Fragen, wie beispielweise Bushaltestellen oder dem Wohnungsbau zu beschäftigen. Doch ich werde immer wieder in die Weltpolitik hineingezogen.
Seit dem 7. Oktober bekomme ich besonders viele Anfragen zum Nahost-Konflikt. Man erwartet, dass ich auf diesen internationalen Konflikt, der seit Jahrzehnten besteht, eine Antwort weiss. Aber würde man so etwas auch von irgendeinem nicht jüdischen Zürcher oder Zürcherin erwarten? Als Privatperson würde ich solche Anfragen ablehnen. Aber ich weiss, dass es als Politiker und auch als aktives Mitglied meiner jüdischen Gemeinde meine Aufgabe ist, da zu sein, zu reden.
Kürzlich wurde ein Hakenkreuz vor meine Haustür gesprayt. Solche Vorfälle haben zugenommen. Es tut natürlich weh, aber es überrascht mich nicht, ich kenne das bereits. Wir orthodoxe Juden sind es gewohnt, überall erkennbar zu sein. Anders auszusehen und deshalb für manche ein Feindbild darzustellen. Aber ich weiss, dass solche Sachen üblicherweise nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommen.
Ich bekomme auch viele positive Kommentare in letzter Zeit, man spricht mir Mitgefühl und Solidarität zu. Das gibt mir Mut, doch manchmal würde ich mir auch wünschen, gar nicht angesprochen zu werden.
Yarin Shmerling, 28, Swiss Jews Against the Occupation
Seit dem 7. Oktober trauere ich und habe Angst, um meine Familie, die überall in Israel/Palästina verteilt ist. Aber ich bin auch wütend und enttäuscht darüber, wie meine Angst und Trauer instrumentalisiert werden – vor allem von rechter Seite. Zu Beginn habe ich mich dabei sehr einsam gefühlt, aber die Gruppe Swiss Jews Against the Occupation hat mir gezeigt, dass ich nicht alleine im Kampf für Frieden, Sicherheit und Freiheit für alle bin.
Meine physische Sicherheit als Jude sehe ich nicht mehr beeinträchtigt als vorher. Antisemitismus ist kein neues Phänomen und es ist definitiv nicht ausschliesslich muslimisch oder sogar importiert. Den Antisemitismus, den ich bis jetzt erfahren habe, kam jedes einzelne Mal von christlichen Schweizer Bürger:innen.
Als Anekdote: Auf der Wand eines Migros in meiner Nähe wurde ein Hakenkreuz hingeschmiert. Nach mehrmaligem aufmerksam machen wurde mir gesagt, dass ich bis jetzt der einzige wäre, der sich deswegen meldet. Als ob ich mich einfach einkriegen soll. So eine Reaktion macht mir Angst – nicht etwa Menschen, die an eine Demo gehen, die Freiheit und Sicherheit für Palästinenserinnen und Palästinenser fordert.
In Zürich sehe ich einerseits viele Stimmen, die die Hamas und die israelische Regierung verurteilen; andererseits interessiert die Situation schlichtweg nicht so viele Menschen. Ich wünsche mir mehr Sensibilität, Empathie und nuancierte Debatten. Und ich wünsche mir jeden Tag ein friedliches Leben für alle im Nahen Osten.
Chantal Schmid (Name geändert), 28, Sozialarbeiterin
«Sag nicht, dass du jüdisch bist», rieten mir meine Eltern früher. Meine Beraterin heute meint: «Steh dazu.» Als ich kürzlich bei einem Essen, gesagt habe, dass ich kein Schweinefleisch esse, weil ich jüdisch bin, meinte eine Mitarbeiterin, das könne nicht sein, ich hätte ja gar keine grosse Nase. Solche Vorfälle erlebe ich immer wieder.
Mein Umfeld ist links – links und jüdisch. Ich bin engagiert in der SP und im antirassistischen Bereich. Aktuell vermisse ich laute Stimmen. Seit dem 7. Oktober bin ich fest mit meinem Schmerz beschäftigt. Ich wünschte mir, andere würden sich für mich, für uns Jüdinnen und Juden, einsetzen. Wir gestehen uns heute ein, dass wir sexistisch oder rassistisch sozialisiert sind. Diese Offenheit fehlt mir gegenüber Antisemitismus. Aber wir können auch Antisemitismus verlernen.
Jüdische Menschen, muslimische Menschen, Palästinenserinnen und Palästinenser und Israelis: Der Schmerz ist aktuell bei uns allen riesig. Doch in der Öffentlichkeit herrscht Stimmung wie an einem Fussballspiel – es wird in zwei Teams unterteilt. Dabei müssen wir doch aus einer linken Perspektive unsere Kräfte bündeln und zeigen, dass es gemeinsam geht: für ein freies Palästina einstehen und gegen Antisemitismus weltweit kämpfen.
Mava Rack (Name geändert), Anfang 30, Lehrerin
Es ist das erste Mal, dass der Nahostkonflikt uns als Familie getroffen hat und näher an unser Zuhause gekommen ist. Ein Familienmitglied von mir wurde durch die Hamas erschossen. Dieser Tod fühlt sich so sinnlos, so unnötig an. Seither denke ich oft daran, wie es wäre, meinen Partner so zu verlieren. Ich wüsste nicht, wie weitermachen.
Mir fällt zudem auf, dass in der Debatte seither vieles vermischt wird, etwa wenn die Palästinenserinnen und Palästinenser mit der Hamas gleichgesetzt werden. Solche Vereinfachungen machen mich traurig. Ich nehme die Welt in Graustufen wahr, nicht in schwarz-weiss. Ich will traurig und wütend sein über den Tod in meiner Familie, über die Geiselnahme, über das Leid von Palästinenserinnen den Palästinensern. In meinem Umfeld geht es einigen so und doch scheint es für diese Zwischenposition gerade wenig Platz zu geben.
Verletzende Aussagen haben leider stark zugenommen. Mir scheint es darum umso wichtiger, dass wir als Schweizerinnen und Schweizer jeglicher Religion unseren Kindern vorleben, wie man anderen aktiv zuhört und sich selbst klar ausdrückt. In privatem Engagement und als Lehrerin setze ich mich tagtäglich dafür ein.
Michel Rappaport, 60, Architekt und Festivaldirektor «Yesh!»
Als es am 7. Oktober losging, war ich in Tel Aviv in den Ferien und wurde von Sirenen geweckt. Auf einmal war ich mitten im Krieg. Das ist mir eingefahren. Als ich Tage später dann zurück in Zürich war, zog ich mich in die heile Welt der Berge zurück.
Die unmittelbar nach dem Massaker aufgepoppten pro palästinensischen Demonstrationen ohne Verurteilung der Hamas, mit einseitigen Schuldzuweisungen und antisemitischen Slogans haben mich verunsichert und sehr schockiert. Wie können Menschen sich bei diesem komplexen Konflikt so klar und eindeutig positionieren? Ich selbst stand immer sehr kritisch Israels Politik der letzten 30 Jahre gegenüber. Doch auf einmal musste ich mich dazu rechtfertigen. Mein Umfeld machte mich von einem Tag auf den anderen zum «Juden». Mein Selbstverständnis, Teil dieser Gesellschaft zu sein, kam ins Wanken. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich Zürich als mein Zuhause infrage und begann die Bedeutung eines Zufluchtsortes zu begreifen. Israel als Lebensversicherung, diese Anschauung belächelte ich früher, heute verstehe ich sie besser. Mittlerweile haben sich diese Gefühle zwar wieder gelegt, aber sie waren echt und haben mich selbst sehr erstaunt und aufgewühlt.
An den jüdischen Filmtagen zeigen wir jedes Jahr Filme aus der ganzen Welt mit Bezug zu jüdischer Kultur, Geschichte, Religion und Gesellschaft. Auch Filme mit palästinensischem Kontext sind dabei, ebenso wird das Thema Besatzung immer wieder kritisch hinterleuchtet. Das verbindende zwischen den Menschen ist uns wichtig. Da werden wir weiterhin dranbleiben, denn Kultur und Film können vermitteln, wo vielleicht Worte versagen.
Ronny Siev, 49, Gemeinderat GLP
Jüdisches Sein ist auch das Bewusstsein der eigenen Geschichte über viele Generationen hinweg. Man weiss: Man ist anders, man ist vielleicht irgendwann nicht mehr sicher. In meiner Familiengeschichte gab es fast in jeder Generation einen Pogrom, alle paar Generationen musste man fliehen.
Wenn ich höre, was am 7. Oktober geschehen ist, dann denke ich unweigerlich an den Holocaust. Und noch am selben Tag gab es Leute in Europa, die das abgefeiert haben. Es ist schlimm, dass man nicht einmal in so einem krassen Fall die volle Unterstützung der Leute kriegt.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Menschen auf mich zukommen und fragen, wie es mir geht. Vor allem aus meinem Freundeskreis. Das ist aber kaum passiert. Ich mache den Leuten keinen Vorwurf. Denn ich weiss, dass sie nicht verstehen können, was in uns vorgeht.
Ich bewege mich immer noch gleich, aber ich bin auch nicht als jüdisch erkennbar. Die Meldestelle für antisemitische Vorfälle hat für die letzten zwei Monate jedoch mehr Vorfälle registriert als in den zwei Jahren davor. Und dann gibt es Schmierereien wie «Tod den Juden». Der Kampf gegen Judenhass ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Nur gemeinsam können wir unser freiheitliches Leben erhalten.
Oliver Braunschweig, 35, Ökonom, Vorstandsmitglied von NCBI Schweiz
Am 7. Oktober wurde der Mann meiner Cousine erschossen. Er war Soldat in der israelischen Armee, Vater dreier Kinder. Seither habe ich Mühe mit gewalttätigen Szenen in Filmen. Da denke ich an ihn, an meine Cousine, an das Leid so vieler israelischer und palästinensischer Familien.
Wir hatten einen sehr regen, witzigen Familienchat. Seit dem 7. Oktober ist es dort viel stiller. Trauer und Schock sitzen tief, speziell beim israelischen Teil der Familie. Wir Schweizerinnen und Schweizer möchten für sie da sein, aber Textnachrichten scheinen deplatziert. Die Trauer hat auch in der Familie etwas verschoben.
Als Jugendlicher habe ich mich stark mit dem Konflikt und einer gerechten Lösung beschäftigt. Später habe ich dann versucht, mich vom Konflikt abzuschirmen. Nun ist das Thema wieder überall und bewegt auch mich. Aber die öffentlichen Debatten sind aufreibend. Angst und Schmerz sind sehr präsent.
Und ich spüre Verunsicherung. Viele meinen, wir erleben eine Zeitenwende. Antisemitische und islamfeindliche, anti-palästinensische und anti-israelische Parolen und Taten haben zugenommen. Ich hoffe, dies ist von kurzfristiger Dauer. Solche Tendenzen müssen wir als Schweizer Gesellschaft mit Dialog gemeinsam überwinden. Dafür setze ich mich ehrenamtlich ein.
Sam Friedman, 41, Co-Präsident FC Hakoah
Am 7. Oktober wachte ich bereits mit einem unguten Gefühl auf. Es folgten Stunden der Ungewissheit. Wie geht es meinen Eltern? Meiner Tochter? Sie befanden sich zum Zeitpunkt des Terroranschlags in Israel. Es war schrecklich, aber die Ohnmacht wich Kampfeswillen. Die Schweiz macht es sich sehr leicht, äussert sich zu wenig deutlich zu den Gräueltaten in Gaza, übernimmt keine Verantwortung – nicht für die Schweizerinnen und Schweizer in Israel und auch nicht für Jüdinnen und Juden in der Schweiz.
Ich aber werde kämpfen. Seit Krieg herrscht in Israel, ist die Situation in Zürich angespannt. In den letzten Jahren erlebte ich kaum Antisemitismus in der Öffentlichkeit. Das ist nun anders. Beim FC Hakoah tragen wir unser Trikot mit Stolz, auf der linken Brust prangt der Davidstern. Dass die Kinder, die ich trainiere, das Symbol auf dem Weg zum Bolzplatz verdecken müssen, ist für mich ein Armutszeugnis.
Aber mein Herz gehört Zürich. Deshalb steht es für mich ausser Frage, dass ich mich auch weiterhin für jüdische Menschen in dieser Stadt einsetze, über Antisemitismus aufkläre, mich öffentlich dazu äussere und auch mal Salz in die Wunde streue. Wir dürfen uns von der Angst nicht lähmen lassen.
Antoine Horst D’Oeuvre (Name geändert), 66, Journalist und Schriftsteller
Ich kann dieser Tage Gedanken an eine unterschwellige Bedrohung nicht abstellen. Das hat mit den allenthalben aufkommenden Protestaktionen und Demonstrationen für Gaza zu tun.
Meine Mutter hat mir berichtet, was sie in Auschwitz erlebt hat. Daraus folgerte ich, dass Israel für mich sowas wie eine Lebensversicherung ist. Jetzt ist wieder ein Pogrom passiert, in Israel am 7. Oktober. Abgesehen von eher leisen Solidaritätsbekundungen mit den initialen Opfern, sind gleich darauf grosse Manifestationen gegen Israel, sein Recht sich zu wehren und sogar gegen seine Existenz aufgeflammt.
Im Zeitalter von Globalisierung, Verfügbarkeit von sozialen Medien und einer rasenden Verbreitung von undifferenzierten, ungefilterten, und oft auch unwahren Informationen, ist auch hier in der Schweiz keine absolute Sicherheit garantiert. Der zuletzt wieder aufgeflammte Judenhass erfolgt in immer wiederkehrenden Abständen. So wie seit zwei Jahrtausenden. Das bestätigt jedes Mal aufs Neue das unbewusste Unbehagen, das man als Vertreter der zweiten Generation nach der Shoah mit sich herumträgt: Verfolgung und Genozid können jederzeit und überall ausbrechen.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen.