Universitätsstudie zu Missbrauchsfällen in Schweizer katholischer Kirche entfacht 25 Jahre alte Debatte neu.
Generalvikar Andreas Sturm
Langjährige Diskussion über Missbrauch in der katholischen Kirche flammt erneut auf. (Symbolbild) - Keystone

Die im September 2023 veröffentlichte Studie der Universität Zürich zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche der Schweiz hat eine Debatte wieder angestossen, die seit mehr als 25 Jahren geführt wird. Dies zeigt ein Blick ins Archiv der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Mitte der 1980er-Jahre hatte die Debatte in Nordamerika und Irland ihren Anfang genommen.

In der Schweiz flammte sie zum Ende der 1990er-Jahre erstmals auf. Fälle von sexuellen Übergriffen durch Kirchenleute kamen analog zu anderen europäischen Ländern zunehmend ans Tageslicht. Mehrere katholische Geistliche wurden verurteilt, so etwa 1998 im Tessin ein ehemaliger Pfarrer von Lumino und Castione und 1999 ein Pfarrer von Chiasso.

2001 wurde ein pädophiler Priester im Kanton Jura zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Ende März 2002 wurde der katholische Pfarrer von Walenstadt SG der sexuellen Handlungen mit Kindern bezichtigt. Er wurde verhaftet, war geständig und trat von seinem Amt zurück.

Gremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral»

Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) kündigte im selben Jahr an, dass sich eine Taskforce der Problematik annehmen werde. Die Bischofskonferenz erliess zudem erstmals Richtlinien gegen sexuelle Übergriffe in der Seelsorge – darunter eine Anhörungspflicht für Bischöfe, wenn sich Opfer melden. Auch wurde das Gremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» gegründet, das in den Folgejahren die Meldungen zu Opfern und Tätern kirchenintern erfasste.

Die SBK wollte die Kirche damals aber «im Dorf lassen». Ein Sprecher sagte demnach: «Die Fälle von wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Priestern in der Schweiz können an einer Hand abgezählt werden, und es gibt proportional mehr pädophile Familienväter.» Ebenfalls 2002 setzte das Bistum St. Gallen – als erstes in der Schweiz – ein Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe ein.

Im Januar 2008 gestand zum ersten Mal ein Mitglied der katholischen Hierarchie die Verantwortung im Falle eines Schweizer Priesters ein, der unter Pädophilieverdacht stand. Das Bistum von Lausanne, Genf und Freiburg wisse seit 1989, dass ein Kapuziner mindestens ein Kind missbraucht habe, sagte der Offizial in einem Interview mit der Zeitung «Le Matin dimanche» damals. Die zivilen Gerichte seien aber nie informiert worden. Stattdessen sei der Verdächtige und teilweise Geständige nach Frankreich disloziert worden.

2014 dritte Auflage der Richtlinien gegen sexuellen Missbrauch

2010 forderte der damalige Einsiedler Abt Martin Werlen im Zuge neuer, öffentlich gewordener Missbrauchsfälle in der Schweiz, die Schaffung eines zentralen Registers in Rom, wo angezeigte Kirchenleute erfasst werden sollten. Die SBK winkte ab, auch eine «schwarze Liste» fehlbarer Geistlicher in der Schweiz wurde trotz Forderungen aus der Bevölkerung und einzelner Kirchenleute ebenfalls nicht geschaffen. Die SBK verschärfte jedoch ihre Richtlinien gegen sexuelle Übergriffe in der Seelsorge.

Die Bischöfe verpflichteten sich, Seelsorger nur noch einzustellen, wenn sie vom bisherigen Arbeitgeber über das Vorleben des betreffenden Auskunft erhalten haben. Im selben Jahr wurden dem Gremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» 146 Missbrauchsfälle gemeldet. In den Folgejahren wurden laut der SBK jeweils neue Opfer und Täter bei sexuellen Übergriffen im zweistelligen Bereich gemeldet.

2014 setzte die SBK die dritte Auflage der Richtlinien gegen sexuellen Missbrauch in Kraft. Neu galten die Richtlinien nicht nur für die direkt in der Seelsorge tätigen Personen. Sondern auch für alle jene, die in verschiedensten Bereichen im kirchlichen Umfeld wirkten, hatte es damals geheissen.

Öffnung der bischöflichen Geheimarchive

Zwischen 2010 und 2015 seien rund 20 Strafverfahren gegen Priester und katholische Mönche wegen sexuellen Missbrauchs eröffnet worden, teilte die SBK auf Anfrage der damaligen Nachrichtenagentur SDA mit. Dies, obwohl die Kirche 172 mutmassliche Täter erfasst hatte. Ein Teil der Verdächtigten sei bereits verstorben, weitere seien «unauffindbar» gewesen.

Bis Ende 2018 wurden in der Schweiz 317 Missbrauchsfälle registriert. Die Opfer waren meist Kinder und Jugendliche. Die SBK verschärfte die Anzeigepflicht weiter: Sexuelle Übergriffe in der katholischen Kirche sollten künftig in jedem Fall zu einer Anzeige bei der Justiz führen, wenn es Hinweise auf ein Offizialdelikt gibt.

Im April 2022 beauftragte die katholische Kirche ein Team von Forschenden der Universität Zürich nach der Öffnung der bischöflichen Geheimarchive das «dunkle Kapitel» der Schweizer Kirchengeschichte zu untersuchen. Die Ergebnisse der im Herbst 2023 veröffentlichten Studie brachten mehr als tausend Missbrauchsfälle seit den 1950er-Jahren zum Vorschein.

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