Kinder mit Tablets am Esstisch? «Grosser Fehler»
Kinder können sich beim Essen nicht immer ruhig verhalten. Ihnen deshalb ein Handy oder Tablet in die Finger zu drücken, ist aber schädlich.

Das Wichtigste in Kürze
- Expertinnen warnen davor, Kindern beim Essen ein Tablet zu geben.
- Das Verhältnis zum Essen ist ungesund, die Sinne werden nicht eingesetzt.
- Für Kinder und Familien sind Konversationen und das Zusammensein beim Essen wichtig.
«Neun von zehn Tischen hatten ihre Kinder vor dem Tablet oder Smartphone platziert. Dort schauten die Kinder während des Essens irgendwelche Sachen an.» Touristin Daniela K.* wundert sich über andere Familien im All-Inclusive-Hotel am Meer.
Denn: Die Mutter einer vierjährigen Tochter kann sich nicht vorstellen, ihr Kind beim Essen vor so ein Gerät zu setzen. Denn gerade beim Essen erzähle ihre Vierjährige die lustigsten Sachen und liebe den Austausch mit den Eltern.
Das Tablet oder Handy mag Eltern etwas Ruhe geben, doch ist ein elektronisches Gerät eine sinnvolle Lösung, um das Kind am Esstisch zu halten? Nau.ch hat bei mehreren Expertinnen nachgefragt.
Die klare Antwort: Nein!
Weg mit den Handys und Tablets
«Das Kind – besonders wenn es noch klein ist – lernt so kein gesundes Essverhalten», sagt Moana Werschler. Sie ist bekannt als Miss Broccoli und steht Familien als Ernährungscoach zur Seite. «Genau so leidet ja das Familienleben, das Soziale darunter: Man spricht nicht mehr miteinander.»

Kinder würden aber gerade über die Sozialisierung lernen und das tun, was sie sehen. «Wenn die Eltern ebenfalls in ihr Handy starren oder ein Fernseher läuft, läuft Essen nur noch nebenbei. Und gerade bei kleinen Kindern ist das ein grosser Fehler.»

Die Ernährungsberaterinnen Sonja Ricke und Helena Kistler-Elmer vom Medizinischen Zentrum Bad Ragaz raten: Zum Essen sollen Medien aller Art vermieden werden. Die Aufmerksamkeit gelte der Nahrungsaufnahme. Körpersignale wie Hunger und das Sättigungsgefühl sollen so bewusst wahrgenommen werden.
Neben den Körpersignalen spielen auch die Sinne eine wichtige Rolle. «Mediale Ablenkung nimmt den gesunden Fokus auf das Essen auf dem Tisch. Wir realisieren oft nicht, was und wie viel wir essen und nehmen nicht wahr, wie das Essen schmeckt. Essen wird zur Nebensächlichkeit.»
Wichtiges gerät so ausser Kontrolle, etwa die Menge der Nahrung, die Essgeschwindigkeit und die Wahrnehmung des satt werden. Oftmals esse man zu viel oder zu wenig, was zu Über- oder Untergewicht führen kann.
Ricke und Kistler-Elmer sagen ebenfalls: Für Gespräche und Austausch muss Zeit und Raum bleiben.
Freude am Essen geht verloren
Laut der Ernährungsexpertin Isabelle Rieckh von der Berner Fachhochschule kann regelmässiger Handykonsum beim Essen zu einer Verhaltensabhängigkeit führen. Heisst: Das Kind verbindet Essen dann stets mit dem Handy oder Filmeschauen.
Das hätte negative Folgen. Würde man dem Kind das Handy plötzlich wegnehmen, könne es sich unangenehm oder gestresst fühlen. «Das führt wiederum dazu, dass das Kind das Essen verweigert, wenn der Aspekt der Medien nicht mehr gewährleistet wird.»
Konsequenzen des regelmässigen Medienkonsums beim Essen sieht Rieckh einige. Neben dem Hunger- und Sättigungsgefühl werde auch das Bewusstsein für Geschmack und Textur des Essens weniger – «und in Folge die Freude am Essen».
«Studien zeigen, dass Familienmahlzeiten mit etlichen gesundheitlichen Vorteilen in Verbindung gebracht werden», sagt die Ernährungsforscherin. «Durch den Medienkonsum sind soziale Interaktionen beeinträchtigt, was die Qualität der Beziehungen in der Familie beeinflussen und negative Konsequenzen in der Interaktion Eltern-Kind zur Folge haben kann.»
Ein Aspekt könne etwa eine reduzierte Kommunikationsfähigkeit der Kinder sein. Denn «Medienkonsum kann bei Kindern als Stressor wirken und in Folge auch zu Reizbarkeit, Wut, aber auch Konzentrationsprobleme und Schlafstörungen führen».
Die Ernährungsexpertin von der Berner Fachhochschule berichtet, dass aus ihrer Erfahrung gerade Kinder täglich Medien beim Essen konsumieren, die schon ein leicht bis stark gestörtes Essverhalten zeigen. Dabei sei das Kind «enorm wählerisch» und esse jeweils sehr wenig.
Ein Handy oder Tablet sei dann «der Verzweiflungsakt der Eltern, zumindest etwas in das Kind ‹hineinzubekommen›. Ein abgelenktes Kind ist viel eher bereit, den Mund zu öffnen und sich einfach etwas reinschieben zu lassen. Das beruhigt die Eltern, die so die Kontrolle über die gegessenen Essensmengen wiedererlangen, was natürlich in einem Teufelskreis endet.»
Viele Eltern würden die elektronischen Geräte nur ausnahmsweise herausrücken – wenn man beispielsweise mal einfach Ruhe wolle. «Das ist sicherlich auch nicht die optimale Strategie, um das elterliche Ziel zu erreichen, stört aber definitiv nicht gleich das Verhältnis des Kindes zum Essen. Ab und zu ist das absolut ok und macht Eltern nicht gleich zu verantwortungslosen Rabeneltern.»
Prozess nicht hinauszögern
Was gibt es also für gesündere Alternativen für ein Kind, das sich am Tisch nicht ruhig verhalten kann?
Miss Broccoli Moana Werschler empfiehlt dem Kind vor dem Essen Bewegung. «Am Tisch hilft es, eine Uhr auf zehn Minuten zu stellen, damit es wenigstens diese paar Minuten schafft. Für kleine Kinder sollte man Verständnis haben, dass sie nicht 20 Minuten oder länger am Tisch bleiben und auf die Eltern warten müssen.»
Gemäss Sonja Ricke und Helena Kistler-Elmer vom Medizinischen Zentrum Bad Ragaz sind Mahlzeiten so zu gestalten, «dass zügig gegessen werden kann». Das heisst: «Keine unnötig langen Pausen zwischen den Gängen.»
Des Weiteren könne man Kinder in den Schöpfmodus involvieren. Beispielsweise, indem der Teller in der Küche gefüllt wird. Am Tisch sei dies weniger effektiv.
Die Ernährungsberaterinnen empfehlen zudem, Kinder nicht unnötig länger am Tisch sitzen zu lassen. «Ist das Kind fertig mit Essen, darf es vom Tisch.»

Wichtig seien die Verantwortung und Vorbildfunktion der Eltern. Von ihren Vorgaben hänge ein gesundes Verhältnis zum Essen ab. «Der Bezug zu einem ausgewogenen und gesunden Essverhalten wird in den ersten vier Jahren gelegt.»
Die Eltern sollten am Esstisch – wie das Kind – zur Ruhe kommen, am besten schon bei der Vorbereitung der Mahlzeiten. «Weg von ‹schnell-husch-husch› hin zu ‹achtsam-genussvoll›.»
Isabelle Rieckh findet es wichtig, das Bedürfnis des Kindes im entsprechenden Moment zu ergründen. «Das bedeutet Empathie, Präsenz und Aufmerksamkeit der Eltern.» Diese müssten sich nach den Bedürfnissen des Kindes richten, nicht umgekehrt.
«Essen sollte, wenn immer möglich, bewusst und achtsam und in Gesellschaft mit Interaktionen erfolgen.»
Das sagt der Entwicklungspsychologe
Spannend ist das Thema auch aus entwicklungspsychologischer Sicht: «Mediennutzung unterbricht Blickkontakt, Mimik- und Sprachsignale. Diese sind unter anderem für die Regulation der Emotionen wichtig», sagt Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich.
Die Sprache werde durch das Hören und den Gebrauch der Sprache gelernt und verbessert. «Mahlzeiten sind zentrale Lernorte für Wortschatz und narrative Fähigkeiten. Medien können diese Dialoge reduzieren», warnt auch Daum.
Hoher Fernsehkonsum sei zudem beispielsweise mit niedrigem Obst- und Gemüsekonsum, aber hohem Konsum zuckerhaltiger Getränke, fettiger Snacks und Fast Food assoziiert. «Die Kausalrichtung ist hier allerdings unklar, ebenso wie der wahrscheinliche Einfluss weiterer Faktoren.»
Der Entwicklungspsychologe empfiehlt Eltern, die Kinder in die Gespräche einzubeziehen und die Gespräche zu Ritualen zu machen. Daum sagt: «Nicht nur: ‹Wie war die Schule?›, sondern differenzierter, wie ‹Mit wem warst du in der Pause?›, ‹Was hat dir heute gefallen?›»