In der Schweiz fehlen Staatsanwälte, Forensikexperten und Richter. Betrüger, Vergewaltiger und Raser werden milder bestraft, weil die Verfahren zu lange dauern.
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Ein Mann wird in Handschellen abgeführt. - AFP/Archiv

Das Wichtigste in Kürze

  • In der Schweiz sind gemäss einer Erhebung über 100'000 Justiz-Fälle hängig.
  • Weil die Verfahren zu lange dauern, werden Kriminelle milder oder gar nicht bestraft.
  • Hauptgrund ist ein Mangel an Richtern, Staatsanwälten, aber auch Experten und Polizisten.
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Die Schweizer Justiz kämpft gemäss einer «Tamedia»-Umfrage aktuell mit über 100'000 offenen Verfahren. Und die Zahl der nicht abgeschlossenen Fälle, die bei den Staatsanwaltschaften liegen bleiben, steigt wegen Personalmangels Jahr für Jahr.

Die langen Wartezeiten führen dazu, dass Beschuldigte milder bestraft werden oder bewiesene Taten sogar verjähren. Denn gemäss Bundesgericht wirkt es strafmildernd, wenn in einem Verfahren «eine von der Strafbehörde zu verantwortende krasse Zeitlücke zutage tritt».

Mildere Strafe für Raser und Tierquäler, aber auch Schwerverbrecher

Der Artikel führt zahlreiche Beispiele auf: Ein Arzt, dessen Patientin verblutete, nachdem er einen Standardeingriff verpfuschte, wurde mehrfach der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen.

Doch er blieb am Ende straffrei. Das Bundesgericht ordnete an, den Fall einzustellen, weil das Verfahren zwölf Jahre gedauert hatte.

Schweizerisches Bundesgericht Sexarbeit
Das schweizerische Bundesgericht in Lausanne muss immer öfter das gesprochene Strafmasse verkürzen.
Gericht
Die Schweizer Justiz kann nicht mehr alle Fälle schnell genug abarbeiten.
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Forensiker ermitteln am Tatort: Auch fehlende Kriminologie-Spezialisten ziehen Verfahren in die Länge. Foto: Victoria Jones/PA Wire/dpa
Reederei Prozess
Zudem würden die Rekursmöglichkeiten immer weiter ausgebaut: Anwälte betreten das Amtshaus in Bern am 22. Juni.

Im Thurgau wurde im letzten Herbst eine Strafe wegen Raufhandels und versuchter schwerer Körperverletzung um sechs Monate reduziert. Die Staatsanwaltschaft habe den Fall über zwei Jahre liegen gelassen.

Im Aargau erhielten dieses Jahr ein Raser, eine Tierquälerin und ein Mann, der bewaffnet die öffentliche Sicherheit gefährdete, allesamt Strafreduktionen. Denn: Die Gerichte brauchten nach dem Prozess zu lange, um das begründete Urteil zuzustellen.

«Untersuchen wir nicht, weil wir die Ressourcen nicht haben»

Insgesamt zählt «Tamedia» für 2022 ganze 113'064 pendente Verfahren. Fünf Jahre früher waren es noch 102'088. In den grossen Kantonen wie Zürich, Aargau oder Genf sind aktuell über 10'000 Fälle offen.

Die zu verhandelnden Prozesse steigen analog zur wachsenden Bevölkerung. Zudem kommen aus Bundesbern immer neue Gesetze, die oft komplizierte juristische Abklärungen bei der Umsetzung erfordern.

Waren Sie schon einmal Teil einer Gerichtsverhandlung?

Doch der Personalbestand der Justiz stagniert. Dabei fehlt es an allen Ecken und Enden: Neben überlasteten Staatsanwälten und Richtern ziehen oft auch fehlende Gerichtsmediziner, Gutachter, Polizisten oder Fachexperten die Verfahren in die Länge.

Mehrere Stellen fordern darum, diese Berufe wieder attraktiver zu machen. Ansonsten droht eine Triage: «Wir sagen dann: Diese möglicherweise strafbare Handlung untersuchen wir nicht, weil wir die Ressourcen nicht haben», wird der Erste Staatsanwalt Christoph Ill zitiert. Das wäre ein Eingriff in die Gewaltenteilung.

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