Berner Telefondienst: «Menschen brauchen ein offenes Ohr»

Redaktion
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Malreden schenkt Menschen Gespräche, Zeit und Nähe – kostenlos und anonym. Das Berner Projekt wurde 2025 für den Diversity Award nominiert.

Eve Bino malreden
Die Bernerin Eve Bino ist Co-Geschäftsleiterin von malreden – ein Angebot des Vereins Silbernetz Schweiz. - Daniel Zaugg

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Bernerin Eve Bino ist Co-Geschäftsleiterin von malreden.
  • Die Berner Non-Profit-Organisation bietet kostenlose und anonyme Telefongespräche an.
  • Das Projekt war 2025 für den Swiss Diversity Award in der Kategorie «Age» nominiert.

BärnerBär: Können Sie sich an den Moment erinnern, als Ihnen klar wurde: Wir brauchen ein Angebot wie malreden.ch?

Eve Bino: Ich war damals als Physiotherapeutin tätig und habe gemerkt, dass ich für gewisse Menschen die einzige Ansprechperson bin. Denen fehlte etwas. Erst da habe ich begonnen, mich mit dem Thema Einsamkeit auseinanderzusetzen.

Als ich dann von einem ähnlichen Projekt in Deutschland las, war für mich sofort klar: So etwas braucht es auch in der Schweiz. 2018 hatte ich die Idee, 2021 starteten wir nach dem Aufbau des Netzwerks gemeinsam mit meiner Kollegin Sylviane Darbellay.

BärnerBär: Wenn ich mich heute einsam fühle und bei Ihnen anrufe – was passiert dann?

Eve Bino: Wir haben zwei kostenlose und anonyme Angebote: Das Alltagstelefon für ein spontanes Gespräch, täglich von 9 bis 20 Uhr erreichbar. Und die Gesprächstandems, bei denen man einmal pro Woche mit derselben Person telefoniert.

Aber es geht nicht nur um Einsamkeit. Manchmal hat man einfach niemanden, mit dem man sich austauschen kann. Dann wünschen sich Menschen genau diesen Moment des Gesprächs.

BärnerBär: Wer ruft bei Ihnen am häufigsten an?

Eve Bino: Vor allem ältere Menschen, weil im Alter die Möglichkeiten abnehmen, soziale Kontakte zu pflegen oder neu aufzubauen. Ganz bewusst ist dies unsere Zielgruppe.

In dieser Gruppe ist die Vielfalt aber gross: Viele der Anrufenden haben schwierige Lebensgeschichten, oft auch eine angespannte finanzielle Situation. Mehr Frauen als Männer greifen zum Hörer – aber eine klare Typologie gibt es nicht.

«Konstante Zunahme»

BärnerBär: Wenn wir über Alterseinsamkeit sprechen: Spüren Sie, dass dieses Problem zunimmt?

Eve Bino: Ich persönlich kann das nicht abschliessend beurteilen. Studien zeigen aber, dass Einsamkeit in der Hochaltrigkeit deutlich zunehmend ist.

BärnerBär: Und wer sitzt auf der anderen Seite des Telefons?

Eve Bino: Ein bunter Strauss an Freiwilligen – im Moment rund 60 Personen. Von jungen Berufstätigen bis zu Pensionierten. Etwa ein Drittel ist im Ruhestand, möchte sich aber weiter engagieren.

Was alle gemeinsam haben, ist die Neugier am Menschen. Interesse und Empathie muss man mitbringen, sonst funktioniert es nicht.

BärnerBär: Welche Entwicklung sehen Sie bei den Anrufen?

Eve Bino: Wir sehen seit Beginn eine konstante Zunahme. Im Moment führen wir mehr als 20 Gespräche pro Tag. 2022 waren es noch rund 450 Gespräche pro Monat, im letzten Jahr schon 700 – insgesamt über 6000 Gespräche.

Parallel dazu mussten wir natürlich auch ständig neue Freiwillige gewinnen.

Seniorin Telefon malreden
Studien zeigen, dass Einsamkeit in der Hochaltrigkeit deutlich zunehmend ist. (Symbolbild) - Keystone

BärnerBär: Wir leben in einer Welt voller Kommunikation: Social Media, Messenger und Video-Calls. Warum fühlen sich trotzdem so viele Menschen einsam?

Eve Bino: Wir haben zwar mehr Kommunikationskanäle, doch entscheidend ist die Qualität. Was bringt mir ein Whatsapp, wenn ich mich trotzdem allein fühle? Es braucht ein Verbindlichkeitsgefühl, ein Gegenüber, das mich wirklich sieht und hört.

Genau diesen Moment wollen wir schaffen: eine kurze Entlastung im Gespräch. Natürlich gibt es auch spannende neue digitale Angebote, Chatbots zum Beispiel. Aber dieses echte Gegenüber, die Stimme am Telefon – das ist etwas sehr Wertvolles.

BärnerBär: Sie waren für den Diversity Award 2025 nominiert. Was bedeutet das für Sie?

Eve Bino: Das war eine wunderbare Bestätigung für unser Projekt. Unter so vielen tollen Initiativen nominiert zu sein, hat uns sehr geehrt. Es ist eine grosse Anerkennung für die Arbeit, die wir jeden Tag leisten.

BärnerBär: Was wünschen Sie sich für unsere Gesellschaft? Müssen wir wieder mehr miteinander reden?

Eve Bino: Es geht vor allem um eine Haltung. Das Gegenüber wahrnehmen, wertschätzen – im Kleinen wie im Grossen. Ein Lächeln im Bus, ein kurzer Austausch.

Wir versuchen, diese Haltung bei malreden zu leben. Und ich glaube: Wenn jeder Mensch im Alltag ein bisschen mehr davon zeigt, tut das unserer Gesellschaft sehr gut.

Fühlst du dich manchmal einsam?

BärnerBär: Was haben Sie selbst über das Zuhören gelernt?

Eve Bino: Raum geben und nicht immer sofort mit eigenen Geschichten oder Ratschlägen kommen. Die meisten Menschen brauchen keine Tipps, sondern ein offenes Ohr. Das klingt banal, ist aber unglaublich wirkungsvoll.

BärnerBär: Und wie sehen Sie die Zukunft von malreden.ch? Lieber ein kleines Wohnzimmer oder ein grosses Netzwerk?

Eve Bino: Wir sind schon heute ein grosses Netzwerk. Doch viele Menschen kennen uns noch nicht – besonders auf dem Land.

Mein Traum ist, dass die Hemmschwelle sinkt und es selbstverständlich wird, bei uns anzurufen. Dass jemand denkt: Ich hätte jetzt Lust zu reden, also rufe ich einfach mal an. Nicht nur aus Einsamkeit, sondern auch aus Freude am Austausch.

Seniorin Telefon malreden
Es braucht Mut, bei malreden anzurufen. Denn es bedeutet auch, dass man gerade niemanden hat (Themenbild). - Keystone

BärnerBär: Ist diese Hemmschwelle heute noch hoch?

Eve Bino: Ja, absolut. Es braucht Mut, bei uns anzurufen. Denn es bedeutet auch, dass ich gerade niemanden habe.

Das ist in unserer Gesellschaft oft negativ besetzt und mit Scham verbunden. Es wird als Versagen wahrgenommen, wenn man kein soziales Netzwerk hat. Aber ich bin ein positiver Mensch und hoffe, es verändert sich gerade etwas – vielleicht braucht es einfach noch Zeit.

«Geben und Nehmen ist sehr bereichernd»

BärnerBär: Gibt es ein Gespräch, das Ihnen besonders geblieben ist?

Eve Bino: Viele. Diese Gespräche bringen auch mir selbst etwas. Natürlich gibt es traurige Momente, aber genauso Situationen, in denen wir zusammen lachen oder schöne Geschichten teilen.

Dieses Geben und Nehmen ist sehr bereichernd – für mich und für unsere Freiwilligen. Und es zeigt, dass es nicht nur um schwere Einsamkeit geht. Oft ist es auch Prävention. Man hat Lust, zu reden – also tut man es.

Einsamkeit ist normal. Sie sollte nur nicht chronisch werden.

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