Wird der Oppositionschef in der Türkei abgesetzt?
Ein Gericht in der Türkei hat das Verfahren gegen den Oppositionschef Özgür Özel verschoben. Im Oktober könnte der Politiker abgesetzt werden.

Die türkische Justiz hat das brisante Verfahren gegen CHP-Chef Özgür Özel um einen Monat verschoben. Das Gericht in Ankara sollte ursprünglich am heutigen Montag über eine mögliche Annullierung des Parteitags von 2023 entscheiden.
Der Prozess wird laut der «Tagesschau» nun am 24. Oktober fortgesetzt und könnte weitreichende Konsequenzen für die türkische Demokratie haben. Sollte das Gericht den Parteitag für ungültig erklären, droht Özel die Absetzung als Parteivorsitzender der grössten Oppositionspartei.
Die Staatsanwaltschaft wirft mehreren Delegierten vor, Bestechungsgelder angenommen zu haben, um für Özel zu stimmen. Die CHP-Führung weist diese Anschuldigungen entschieden zurück und bezeichnet sie als politisch motivierte Verleumdung.
Massenproteste in der Türkei – Unterstützung für Özel
Zehntausende Menschen gingen am Sonntag in Ankara auf die Strasse, um gegen das Vorgehen der Justiz zu protestieren. Die Demonstranten schwenkten türkische Flaggen und CHP-Banner, während sie den Rücktritt von Präsident Erdoğan forderten.
Oppositionschef Özel sprach vor der Menge und bezeichnete das Gerichtsverfahren laut der «Zeit» als politischen Putschversuch. Er kündigte entschlossenen Widerstand an und forderte vorgezogene Parlamentswahlen in der Türkei als Ausweg aus der politischen Krise.

Die Proteste richten sich nicht nur gegen das konkrete Verfahren, sondern gegen die systematische Schwächung der Opposition durch die Regierung. Viele Teilnehmer sehen in den jüngsten Entwicklungen eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie.
Systematischer Druck auf die CHP seit Kommunalwahlerfolg
Die Republikanische Volkspartei steht seit ihrem überraschenden Erfolg bei den Kommunalwahlen 2024 in der Türkei unter zunehmendem Druck. Damals gewann die CHP die meisten Bürgermeisterämter im Land und stellte damit ihre Stärke unter Beweis.
Seitdem wurden hunderte CHP-Mitglieder wegen angeblicher Korruption und Terrorverbindungen festgenommen. Besonders prominent ist die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, der als aussichtsreichster Herausforderer Erdoğans gilt.
Befürchtungen über das Ende des Mehrparteiensystems
Politikwissenschaftler warnen vor gravierenden Folgen einer möglichen Absetzung Özels für die türkische Demokratie. Eine gerichtlich angeordnete Entmachtung der CHP-Führung würde das Ende eines funktionierenden Mehrparteiensystems bedeuten.

Experten ziehen Parallelen zu autoritären Systemen wie in Russland, wo Wahlen nur noch eine Fassade darstellen. Die Türkei könnte sich zu einer Hegemonie entwickeln, in der demokratische Prozesse keine substanzielle Rolle mehr spielen.
Sollte Özel abgesetzt werden, könnte der frühere, erfolglose Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu wieder eingesetzt werden, so der «Spiegel». Dieser gilt als schwacher Politiker und damit als bevorzugter Gegner für Präsident Erdoğan bei künftigen Wahlen.
Istanbuls Bürgermeister meldet sich aus dem Gefängnis
Der inhaftierte Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu richtete aus dem Gefängnis eine Botschaft an die Demonstranten. Er schrieb, die Regierung versuche, den Ausgang künftiger Wahlen zu manipulieren, indem sie legitime Konkurrenten ausschalte.

İmamoğlu kündigte der «Zeit» zufolge das Ende der «Ära des Ich» und den Beginn der «Ära des Wir» an. Die Demonstranten bejubelten diese Worte und riefen «Präsident İmamoğlu», was seine anhaltende Popularität trotz Haft unterstreicht.
Präsident Erdoğan, der seit über 20 Jahren an der Macht ist, stellt die Ereignisse als innerparteilichen Konflikt der CHP dar. Die nächsten regulären Wahlen stehen 2028 an, wobei Erdoğan eine Verfassungsänderung anstrebt, um erneut kandidieren zu können.