Italien hat demnächst noch eine Edicola weniger – einen der wunderbar altmodischen Zeitungskioske, die seit Jahrzehnten in Rom das Strassenbild prägen.
Rom
In Rom verschwinden die Kioske: Für die Kundschaft mit Rucksack oder Rollkoffer gibt es aber noch mehr Airbnb-Wohnungen, noch mehr Pizza-Stationen und noch mehr Souvenir-Shops. (Symbolbild) - Keystone

Fast ein Vierteljahrhundert haben sie durchgehalten, die beiden Schwestern Pisano. Sommers wie winters, jeden Morgen um halb sechs. Nur im August nicht, wenn sich Italien fast geschlossen im Urlaub befindet, und sonntags nicht, dem Tag des Herrn. Ansonsten haben Alessandra und Patrizia Pisano, seit 2002 jeden Morgen um 5.30 Uhr ihren Zeitungskiosk an der Piazza Vittorio Emanuele II aufgesperrt, einem von Roms schönsten Plätzen. Um 15.00 Uhr gingen die Rollläden wieder herunter. Bis Alessandra, mit ihren 59 Jahren die um ein Jahr jüngere, schwer krank wurde. «Allein schaffe ich das nicht mehr», sagt Patrizia. «Und eine Nachfolge finden wir nicht.»

Damit hat Italien demnächst noch eine Edicola weniger – einen der wunderbar altmodischen Zeitungskioske, die seit Jahrzehnten in Rom das Strassenbild prägen und in vielen anderen Städten auch. Zu Beginn der 2000er, als die Schwestern Pisano ihren Kiosk übernahmen, gab es landesweit davon noch mehr als 36'000. Heute ist davon nicht einmal mehr ein Drittel übrig, und mit jedem Monat werden es weniger. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun – vor allem mit dem Zeitungssterben, wie in anderen Ländern auch. Und mit dem Tourismus, was eine nationale Besonderheit ist.

Souvenir-Shops statt Zeitungskiosken

In Rom merkt man es in diesen Tagen besonders: Mit Beginn der Osterwoche, da Pilger und sonstige Besucher erstmals wieder in voller Personalstärke in der Ewigen Stadt zurück sind, fällt auf, wie viele Läden verschwunden sind. Nicht nur Kioske. Auch manche Handwerker, Kleiderläden und Lebensmittelgeschäfte an der Ecke haben den Winter nicht überlebt. Stattdessen gibt es nun für die Kundschaft mit Rucksack oder Rollkoffer noch mehr Airbnb-Wohnungen, noch mehr Pizza-Stationen und noch mehr Souvenir-Shops.

Denn auch die Zahl von geschätzt noch 11'000 Kiosken im ganzen Land ist nicht die ganze Wahrheit: Vor allem in Rom wird mit den Edicole (so die korrekte Mehrzahl) vielerorts Etikettenschwindel betrieben: sehen aus wie die alten Kioske, sind es aber nicht mehr. Wo früher Zeitungen verkauft wurden, gibt es jetzt Mitbringsel von zweifelhaftem Wert: Gladiatorenhelme aus Plastik, Socken mit Pasta-Motiv, gefälschte Trikots von AS Rom oder T-Shirts mit unfreundlichen Sprüchen wie «Sti cazzo» («Scheiss drauf»). Und: Regenschirme, Plüschtiere, Ladegeräte für Handys, Tickets für Rundfahrten im offenen Bus.

Rom erwartet 2025 bis zu 40 Millionen Besucher

Die Tageszeitung «La Repubblica», durchaus befangen, klagte soeben: «Die Edicola-Besitzer unseres Vertrauens sind Ramschhändler geworden, die die Zeitungen dem schnell verdienten Geld geopfert haben.» Kein Wunder in einer der meistbesuchten Städte der Welt. Im nächsten Jahr wird sich das Geschäft mit den Touristen aller Voraussicht nach noch mehr lohnen: Papst Franziskus hat 2025 zum Heiligen Jahr erklärt. Erwartet werden bis zu 40 Millionen Gäste. Zeitungen werden nur die wenigsten kaufen.

Ausserhalb von Rom, Mailand oder Florenz ist es vor allem das Internet, das den Zeitungskiosken zusetzt. Weil sich immer mehr Leute nur noch online informieren, sind die Auflagen von «Repubblica», «Corriere della Sera» oder «Gazzetta dello Sport» drastisch zurückgegangen. Ohnehin wird hier weniger Zeitung gelesen als im Norden. Abonnements gibt es kaum. Auch die in Italien besonders schlimmen Corona-Jahre trugen zum Verschwinden bei. In vielen Städten stehen Kioske nun leer. Wenn es besser lief, wurden daraus Blumenläden oder kleine Bars für die Nachbarschaft, was vielleicht am besten passt.

Kiosk als Kulturgut – mehr als eine Verkaufsstelle

Denn für viele war die Edicola immer schon viel mehr als ein Zeitungskiosk. «Wir haben uns nie als reine Verkaufsstelle verstanden», meint auch Patrizia Pisano, die Händlerin von der Piazza Vittorio. «Wir waren bei uns im Viertel die Anlaufstelle für Auskünfte aller Art und der Kummerkasten auch. Hier fand sich immer jemand zum Reden.» Zu den Schwestern kamen die Leute morgens schon, noch bevor sie am Tresen den ersten Kaffee tranken. «Mit uns sind zwei Generationen Kinder gross geworden», sagt Patrizia. «Das wird mir am meisten fehlen.»

Zusammen mit vielen anderen Händlern machte sie kürzlich mit einer «Nacht der Kioske» auf den Niedergang ihres Gewerbes aufmerksam. Zu Einbruch der Dunkelheit zündeten alle Laternen oder Kerzen auf ihren Ständen an. Damit appellierte die Branche auch an die rechte Dreier-Koalition von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, mit Steuererleichterungen und anderen Subventionen die Kioske als Kulturgut zu retten – bislang ohne grossen Erfolg.

Nur noch aus dem Automaten

Stattdessen hat es nun sogar die Edicola vor Melonis Amtssitz erwischt, dem Palazzo Chigi. Früher war das ebenfalls ein Familienbetrieb: Bei Luciano Mondini trafen sich Minister, Abgeordnete und Journalisten aller Richtungen, um die jüngste Regierungskrise und alles Andere zu kommentieren. Es war der bekannteste Kiosk des Landes. Vor einigen Monaten, nach Jahren des Niedergangs, verkauften Mondinis Töchter dann. Heute ist dort wieder eine Edicola, wieder dunkelgrün und durchaus schön anzusehen. Aber einen Händler gibt es nicht mehr: Man zieht sich die Zeitung nun aus einem Automaten.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

SubventionenInternetPlastikAirbnbAS RomKaffeeCoronavirusPapst