Nach dem Nazi-Skandal auf Sylt zeigten sich deutsche Spitzenpolitiker empört. Doch war der Aufschrei zu gross? Ein Journalist spricht von einer Doppelmoral.
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Auf einer Party auf Sylt (D) grölten Besucher Nazi-Parolen. - X

Das Wichtigste in Kürze

  • Der «Ausländer raus»-Skandal auf Sylt sorgte für riesige Empörung.
  • Sogar deutsche Spitzenpolitiker meldeten sich danach zu Wort.
  • Der Journalist Jan Fleischhauser wirft ihnen Doppelmoral vor.
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Auf der deutschen Ferieninsel Sylt kommt es vor zwei Wochen zum Eklat: Junge wohlhabende Menschen singen zum Party-Hit «L'amour toujours» von Gigi D'Agostino Nazi-Parolen.

Ein Video schafft es über einen Gruppen-Chat ins Netz. Und löst einen Skandal aus. Die Empörung ist gross – zu gross?

In seiner «Focus»-Kolumne schreibt der deutsche Journalist Jan Fleischhauer über die Reaktionen der deutschen Spitzenpolitiker. Und teilt aus: «Die Sylt-Empörung enthüllt die schreckliche Doppelmoral der deutschen Spitzenpolitiker.»

Doppelmoral sieht Fleischhauer etwa beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, der auf X zum Sylt-Skandal schrieb: «Solche Parolen sind eklig. Sie sind nicht akzeptabel.»

Sylt
Kolumnist Jan Fleischhauer sorgt für Aufsehen. - Focus

Als Studenten bei Protesten an Hochschulen aber «Juden raus» gerufen haben, habe Scholz geschwiegen, argumentiert Fleischhauer. «Haben jüdische Studenten nicht die gleiche Form der Solidarität verdient? Und was ist mit den Opfern von Inländerfeindlichkeit?», fragt der Kolumnist.

Insgesamt fallen ihm die Reaktionen auf die Schickeria – die «hohe» Schicht – auf Sylt zu gross aus. Ist der Vorwurf der Doppelmoral angebracht? Nicht alle sind der Meinung Fleischhauers...

«Vorwurf der Doppelmoral geht zu weit»

«Ich finde die Kolumne bereichernd, der Vorwurf der Doppelmoral geht aber zu weit», entgegnet der deutsche Politikwissenschaftler Oliver W. Lembcke bei Nau.ch

Es sei gut, dass sich der Kolumnist mit ein paar Eigenarten des deutschen Diskurses beschäftige und diese offenlege. Einerseits sei es okay, die – strategische – Empörung und die überraschten Reaktionen der Politikerinnen und Politiker zu kritisieren. Denn sie seien oftmals unauthentisch.

Olaf Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholz kritisierte den rassistischen Vorfall auf Sylt scharf.
Mahnwache auf Sylt
Nach Bekanntwerden eines rassistischen Videos, das in einem Klub auf Sylt gedreht wurde, haben sich Dutzende Menschen zu einer Demo auf der Insel versammelt.
Pony Sylt
Der Skandal ereignete sich über Pfingsten im Pony Club.

Der Alltags-Rassismus, an den man sich bei den Rechtsextremen gewöhnt habe, sei mit dem Sylt-Skandal nun aber gesprengt worden. Der Tenor laute: «Jetzt sind auch die Schnösel rassistisch.»

Der Politikwissenschaftler bezeichnet das als Tabubruch, weil sich offenbart, dass der Rassismus in Deutschland weiter verbreitet ist als Rechtsextremismus.

«Über den Rassismus der Rechtsextremen kann man immer reden, aber Rassismus in der Gesellschaft nicht», so Lembcke. Plötzlich werde sichtbar, dass Rassismus nicht nur bei Rechtsextremen existiere, sondern auch anderswo. Und dass sich die Reichen nun auch noch das leisten können sollen, mache Politik und Bürger sauer.

Täter und Motive lassen sich nicht vergleichen

Auch Lembcke findet es komisch, dass sich nahezu sämtliche Verfassungsorgane zu dem Skandal melden, während sie andernorts schweigen. Die Politik könne dadurch leicht gegenteilige Effekte auslösen und das Gegröle zur Protestgeste aufwerten. «Ein bisschen mehr Gleichmut wäre vielleicht sinnvoller, ein bisschen weniger Überraschung wäre angemessener.»

Doch wichtig sei zu wissen: In der Politik gehe es um gesamtgesellschaftlichen Frieden. «Auf die Schickeria auf Sylt wird stark reagiert, der Vorfall stellt den gesamtgesellschaftlichen Frieden aber nicht in Frage», so Lembcke.

Sylt
Das Lokal hat den rassistischen Sylt-Schnöseln ein Hausverbot erteilt.
Rechtsextremismus
Mit dem Sylt-Skandal wurde ersichtlich, dass Rassismus nicht nur bei Rechtsextremisten existiert, so Politikwissenschaftler Lembcke.
Sylt Skandal
Menschen protestieren nach dem Skandal auf Sylt.

Hingegen gehe es bei den Studenten-Protesten um grössere Sachen wie das Geschehen im Gazastreifen. «‹Ausländer raus›- und ‹Juden raus›-Sprüche kann man hinsichtlich der Opfer vergleichen, hier stimmt Fleischhauers Vorwurf der Doppelmoral. Aber der Tätervergleich ist kein guter, auch der Vergleich der Motive nicht.»

Denn auf Sylt seien es junge Schnösel, die in Party-Laune «rassistischen Quatsch» lallen. An den Hochschulen wiederum kämpfen Studierende für etwas Grösseres, nämlich für den Schutz der Palästinenser in Gaza. «Die Täter sind unterschiedlich, es gibt Unterschiede auch in den Zielen», so Lembcke. Verschiedene Reaktionen seien deshalb gefragt – der Vorwurf der Doppelmoral falsch.

Darum waren die Reaktionen auf die Sylt-Schnösel so heftig

Die bestehenden Unterschiede würden von der Politik nämlich berücksichtigt. «In einem Fall ist die Politik vorsichtig, im anderen nicht. Wenn man aus Sicht des gesamtgesellschaftlichen Friedens schaut, hat die Politik recht.»

«Bei den Schnöseln geht es um die Feierlaune, bei den Studierenden um mehr. Man kann sagen: ‹Studis, ihr seht die Sache falsch, aber euer Anliegen können wir nachvollziehen.› Deshalb kann man es nicht vergleichen.» Wenn es um den gesamtgesellschaftlichen Frieden gehe, sei immer Umsicht und Klugheit gefordert, so Lembcke.

Hast du den Nazi-Parolen-Skandal auf Sylt mitgekriegt?

«Auf Sylt und an der Uni geht es um das Selbstverständnis der Gesellschaft, wer wir sind.» Mit den Nazi-Parolen junger Schnösel auf Sylt sei dieses Selbstverständnis herausgefordert worden.

Lembcke weiter: «Wieso waren die Reaktionen so heftig? Weil das Tabu durchsichtig wird, dass der Rassismus verbreiteter ist als Rechtsextremismus. Und weil die Sylt-Schnösel überdies glauben, sich einen Tabubruch leisten zu können – da ihnen ohnehin nichts passieren kann.» Da denke man sich in Deutschland dann eben: «Das geht nicht!»

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